Klagelied auf einen Dichter
sie geglaubt, er sei nach
Hause gegangen, und hatten nicht gewartet. Sofern Lindsay und Gamley nicht
unter einer Decke steckten, stand damit fest, daß Lindsay zumindest keinen
Vorsatz zur Gewalttat gehabt hatte.
Doch erst nachdem allem Anschein nach alle verfügbaren Zeugen
gesprochen hatten, spielte Wedderburn seine Trumpfkarte aus. Bevor der Sheriff
seine Entscheidung fälle, bitte er noch einen gewissen Murdo Mackay zu hören – der sich als Elektriker älteren Jahrgangs erwies und durch und durch
solide wirkte. Dieser Mann sagte unter Eid aus, daß im Treppenhaus des Turms
eine elektrische Anlage installiert worden war – und zwar ganz eindeutig
erst vor kurzem installiert –, die keinem anderen Zweck diente, als Guthrie von
verschiedenen Punkten der Treppe aus Signale im Turmzimmer zukommen zu lassen.
Die Apparatur war denkbar einfach – lediglich zwei Kabel, die man
zusammendrücken mußte, um den Summer eines kleinen Tischtelefons in Gang zu
setzen – ein Summer, der so gedämpft war, daß nur jemand, der tatsächlich am
Schreibtisch saß, ihn hören konnte. Einen anderen Sinn als den genannten konnte
die Anlage nicht haben, und jeder, der auch nur fünf Minuten allein in
Turmzimmer und Treppenhaus gewesen wäre, hätte sie wieder abbauen können, ohne
daß eine Spur davon geblieben wäre. Die Polizei, deren Aufmerksamkeit
Wedderburn noch im letzten Moment darauf gelenkt hatte, mußte die Existenz
dieser Apparatur bestätigen.
Danach hatte Wedderburn leichtes Spiel. Er legte seine Deutung des
Falles so schlüssig dar, daß niemand widersprechen konnte. Guthrie hatte,
während er tat, als gebe er unter exzentrischen und demütigenden Umständen
seine Nichte an Lindsay frei, in Wirklichkeit ein wahrhaft teuflisches
Verbrechen vorbereitet, wie man es nicht oft in der menschlichen Natur findet.
Ich verfolgte all das mit einigem Interesse – es war ein Maß an
Verworfenheit, das selbst mir mit meinen beträchtlichen Erfahrungen bisher noch
nicht begegnet war –, doch mein größtes Augenmerk galt, glaube ich, nach wie
vor den beiden jungen Leuten, mit denen ich gereist war. Je weiter die
Darlegungen sich entwickelten, desto finsterer blickte Lindsay drein; doch
sonst fand ich kein Anzeichen, aus dem sich hätte ablesen lassen, was in ihm
vorging. Ich nahm an, daß er erleichtert war – obwohl ich meine Zweifel habe,
ob er während all der Zeit überhaupt wirklich wahrnahm, daß er den Kopf schon
in der Schlinge hatte. Er war ein Mensch, der die Dinge für sich behielt, mit
jener mädchenhaften Scheu, die Männer von einfacher Herkunft, doch großer
Sensibilität so oft haben, und das grelle Licht, das nun auf Christine Mathers
und ihn fiel, war eine Art Tod für ihn. In gewissem Sinne, hatte ich das
Gefühl, hatte Ranald Guthrie doch noch triumphiert. Das Mädchen mußte ihn,
obwohl er sonst nicht unhöflich war, drängen, daß er Wedderburn wenigstens mit
ein paar Worten seinen Dank abstattete; danach wollte er ganz offensichtlich
nur noch fort.
Am meisten beschäftigte mich jedoch Christine Mathers. Sie hatte
nicht die Maske oder den Panzer Lindsays, und zuerst Staunen, dann Entsetzen,
dann Dankbarkeit standen ihr im Gesicht geschrieben: daß ihr Geliebter vom
Verdacht freigesprochen und zugleich ihr Onkel und Vormund der gräßlichsten
Greueltaten überführt wurde, mußte sie in ihrem Innersten aufwühlen und
verwirren. Doch ihre Reaktionen waren keineswegs nur emotional; sie folgte der
Untersuchung Wort für Wort mit ihrem ganzen Verstand, als wolle sie jedes
einzelne davon bestreiten, wenn die Notwendigkeit sich ergab. Und mir fiel auf – was, glaube ich, niemand sonst im Raum bemerkte –, daß, je weiter Wedderburn
seine Geschichte darlegte, desto größer die Verwunderung in Christine Mathers’
Zügen wurde. Durch all das Wechselspiel ihrer Emotionen – Furcht, Schrecken,
Erleichterung – war eines ständig und immer stärker zu spüren: ein Zweifeln des
Verstandes. Speight hätte vielleicht neuen Mut gefaßt, wenn er es gesehen
hätte, doch er war viel zu beschäftigt damit, seinen geordneten Rückzug
anzutreten.
Auch Sybil Guthrie – das »feine Mädchen«, wie Speight befunden hatte – nahm etwas von meiner Aufmerksamkeit gefangen. War Miss Mathers erleichtert
und verwundert, so zeigte Miss Guthrie Triumph – und noch etwas anderes,
Undefinierbares dazu. Als Wedderburn zu seiner Rede anhob, da hatte sie ihn mit
einem Blick betrachtet, den ich schon bei Frauen auf
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