Klagelied auf einen Dichter
ein
Lehrbuch der Geologie. Die Geologie, erfuhr ich, war seine Leidenschaft; er kam
aus einer Familie, die Generation um Generation die Scholle brechen mußte, auf
der sie lebte, und hatte den nackten, unveränderlichen Fels zum Symbol seines
Aufbegehrens gemacht. Er hatte etwas Genialisches an sich, das einen Menschen
über alle Klassenschranken erheben kann; auch wenn ich noch nicht einmal ein
Dutzend Worte mit ihm gewechselt hatte, sah ich doch, daß es keine Mesalliance
mit einem ungebildeten, wenn auch gutaussehenden, Bauernjungen war, was Miss
Mathers da vorhatte. Daß er gut aussah, war keine Frage – ein schöner Mann, um
es mit Sybil Guthries Worten zu sagen –, und ebenso sah man ihm an, daß er das
Zeug zu einer Gewalttat hatte. Aber mich interessierte weniger das Verbrechen,
das er vielleicht begangen hatte, als die Intensität der Beziehung, die
zwischen ihm und Christine Mathers bestand. Dies Eisenbahnabteil war ganz
erfüllt vom alten Drama der Liebe – in unserer heutigen Welt so streng in
Sinnlichkeit und Freundschaft geschieden –: Leidenschaft, die so rein und so
intensiv war, daß sie alles Peinliche oder gar Lächerliche hinter sich ließ und
die so deutlich zu spüren war – obwohl die beiden sich kaum ein Wort oder einen
Blick gestatteten –, daß man die Stimmung in der Luft wahrscheinlich mit einem
Barometer hätte messen können. Und dieser Hochdruck war umso faszinierender,
als ich spüren konnte, wie die Nadel zitterte, wie das Hoch fast unmerklich von
einem fremden Tiefdruckgebiet unterlaufen wurde. Ich fragte mich, ob es ein
Mißtrauen zwischen ihnen gab, ein Mißtrauen, von dem sie vielleicht beide
nichts wußten.
Miss Mathers hatte eine Taktik entwickelt – die für sich genommen
schon eindrucksvoll war –, die Peinlichkeit und Anspannung unserer Reise zu
ignorieren. Bisweilen sprach sie zu mir einige Worte über Dinge, die wir
vorüberziehen sahen, doch die meiste Zeit saß sie nur da und blickte
nachdenklich zum Zugfenster hinaus, studierte eindringlich die vom Schnee
mächtig angeschwollenen Wasser des Forth oder verfolgte den Flug eines Falken
über der Ebene von Stirling. In Perth konnte ich mit einer gewissen Professionalität
glänzen, als ich eine Reihe von Journalisten entdeckte, die von unserer Ankunft
Wind bekommen hatten, und ihren Anschlag vereitelte; in Dunwinnie erwartete uns
bereits ein prachtvoller, besorgter alter Herr – Ewan Bell war es – mit einem
schweren Wagen. Er hielt mit den anderen eine Art Konferenz ab, während ich uns
Tee holte: dann ging es ab nach Kinkeig.
Inzwischen war ich doch neugierig geworden, was es mit der ganzen
Geschichte auf sich hatte. Ich hörte mir aufmerksam und mit der gebührenden
Bewunderung an, was Inspektor Speight alles an Fakten gesammelt und an Theorien
entwickelt hatte; ich inspizierte die beiden Leichen – mit besonderem Interesse
die des so dramatisch vergifteten Hardcastle –; und ich fand sogar, glaube ich,
noch etwas Neues heraus, als ich mich mit einem schmächtigen jungen Mädchen
namens Isa Murdoch unterhielt. Dann war es Zeit für die Untersuchung.
Auf ihre etwas makabre Art war diese Untersuchung ein Erlebnis. Ich
wußte nicht, wer Mr. Wedderburn war, und war lange Zeit im Glauben, es sei
Stewart gewesen, der hier den fähigsten Advokaten aus ganz Edinburgh hatte
kommen lassen. Anfangs machte er keinerlei Anstalten, etwas gegen das zu sagen,
was wie eine schlüssige Kette von Indizien gegen Lindsay aussah. Während Miss
Guthries Aussage ergriff er nur ein einziges Mal das Wort, und zwar, um auf den
entscheidenden Umstand hinzuweisen, daß Lindsay während der ganzen Zeit, die er
im Turm war, keine Gelegenheit hatte, sich an jener Schublade zu schaffen zu
machen. Dann hielt er sich ganz zurück, bis der Zeuge Gamley auftrat, und hier
gelang es ihm, einen zweiten wichtigen Punkt herauszustreichen. Lindsay und
Gamley hatten sich angefreundet, und Lindsay hatte Gamley anvertraut, daß er,
mit Zustimmung ihres Onkels, am Weihnachtstag mit Miss Mathers auf und davon
gehen würde. Er hatte Gamley gebeten, ihn zu dieser letzten Begegnung mit dem
Gutsherrn zu begleiten; und daß er fürchtete, er werde vielleicht die Hilfe
eines Freundes brauchen, war ja verständlich. Gamley war mit Lindsay zur Burg
gegangen, doch Hardcastle hatte ihm den Zutritt verwehrt. Er hatte draußen
gewartet, hatte Guthrie stürzen sehen und war ihm zu Hilfe geeilt. Als Lindsay
und Miss Mathers ihn nicht draußen fanden, hatten
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