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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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frische Luft
zu schnappen, hinaus in den Schnee ging und das düstere, halb verfallene Gemäuer
betrachtete, spürte ich, wie schwer sich das Bedrückende dieses Ortes auf mich legte.
Voller Mitleid und voller Entsetzen malte ich mir aus, was für eine seltsame Kindheit
und Jugend die junge Christine Mathers hier verbracht haben mußte, und ich konnte
Noel Gylbys Zweifel verstehen, ob jemals ein Mensch aus einer solchen Welt herauskommen
und sein Glück finden konnte. Mit regelrechter Erleichterung sah ich den Leichenwagen
kommen, der Guthries Leichnam nach Kinkeig bringen sollte. Ein paar Minuten darauf
kehrte auch mein eigener Mietwagen zurück, und darin saß ein sehr respektabel wirkender
älterer Elektriker aus Dunwinnie. Von da an hatten Gylby und ich alle Hände
voll zu tun, bis es Zeit wurde, ins Dorf zu fahren.
    Ich sollte hier noch anfügen, daß die Untersuchung, die in Schottland
vom Sheriff – dem Amtsrichter einer Grafschaft – durchgeführt wird, eine weniger
formelle und in ihrer Funktion enger begrenzte Angelegenheit ist als jene, die bei
vergleichbaren Fällen in England der Untersuchungsrichter oder Coroner anstellt.
In England sind im Laufe der Jahrhunderte an ein Amt, das ursprünglich nur das des
amtlichen Leichenbeschauers war, Funktionen übergegangen, die eigentlich eher in
die Zuständigkeit eines Polizeigerichts fallen sollten, und die gerichtliche Untersuchung
in England ist oft mit langwierigen Ermittlungen und Debatten verbunden. In Schottland
beschränkt sich der Sheriff, der ja ein viel größeres Aufgabenfeld hat als der Coroner,
darauf, den Hergang bei einem Unfalltod zu klären; kommt dabei der Verdacht krimineller
Ursachen auf, so geht der Fall unverzüglich an die Staatsanwaltschaft über, die
entscheidet, ob ein Verfahren angestrengt wird. Daß die schottische Praxis die weitaus
überlegenere ist, brauche ich nicht eigens zu sagen – der Hinweis genügt, daß in
England ein Mann vor dem Coroner regelrecht vor Gericht gestellt werden kann, oft
ohne daß er dabei den Schutz eines echten Strafgerichtshofes genießt. Ich füge diese
Erklärung umso freudiger hier an, als ich nicht vorhabe, den Hergang der Befragung,
die am Nachmittag in Kinkeig stattfand, zu schildern. Der Leser ist mit allen ermittelten
Fakten vertraut, er kennt die Ansichten des braven Inspektors Speight und weiß,
was ich mit meinen Bemühungen noch zutage förderte. Es mag genügen, wenn ich in
aller Bescheidenheit sage, daß meine Darlegungen in sämtlichen Punkten überzeugten.
Die Sache war klar, und dadurch, daß nun sowohl Guthrie als auch sein Komplize tot
waren, hatte sich der Fall praktisch von selbst erledigt. Das Protokoll, in welchem
Guthries hochkriminelle Machenschaften festgehalten waren, ging unverzüglich an
den Staatsanwalt, doch sofern man nicht gegen die einfältige Mrs.   Hardcastle Anklage
wegen Mittäterschaft erheben wollte, war es unwahrscheinlich, daß noch ein Prozeß
folgen würde. Den Bericht darüber, wie es weiterging und welchen Beitrag die beiden
jungen Leute, die nun wieder in Dunwinnie eingetroffen waren, noch zur Aufklärung
weiterer Fragen leisteten, kann ich in die – wie ich mit voller Überzeugung sagen
darf – fähigen Hände des nächsten Erzählers legen.

VIERTER TEIL
    John Appleby

I.
    Verheiratet waren die beiden noch nicht. Vielleicht sollte die
Ehe noch geschlossen werden, bevor das Schiff am Nachmittag ablegte: ich habe
nicht gefragt, denn es ging mich nichts an. Im Grunde ging mich die ganze
Angelegenheit nichts an, und auch später ist mir der Fall nie offiziell
übertragen worden: ich war einfach nur derjenige, der sie aufspürte und der den
Auftrag bekam, sie nach Kinkeig zurückzubringen – dezent und, wenn möglich,
ohne den Haftbefehl hervorzuholen, den ich gegen Neil Lindsay in der Tasche
hatte. Wenn ich mich im Zuge der Reise für die beiden zu interessieren begann
und wenn ich mich später noch umso mehr für die Dinge interessierte, in die sie
verwickelt waren, dann war das meine ganz persönliche Neugier und keine
amtliche Ermittlung. Bis ich sie meinen schottischen Kollegen übergab, war ich
Aufpasser; danach eigentlich nur noch jemand, der überall seine Nase
hineinsteckte. Das wäre mein Vorspruch zu dem, was ich zu berichten habe: nicht
ganz so eindrucksvoll, fürchte ich, wie der von Mr.   Wedderburn.
    »Darf ich Sie ein paar Minuten lang ungestört sprechen? Ich bin
Detective-Inspector bei Scotland Yard.«
    Sie blickten mich überrascht an,

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