Klagelied der Sterne: Der frühe Homanx-Zyklus, Bd. 2
Verfügung gestellt hatte, wollte sie nicht benutzen. Als sie erwachte, krochen soeben die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster, und der Patient lag mit offenen Augen da und starrte sie an.
Überrascht zuckte sie ein wenig zusammen, entspannte sich aber gleich wieder, als sie sein Lächeln sah.
»Ich war ein böser Junge, nicht wahr, Schwester?«
»Wie fühlen Sie sich?«
Noch bevor er antworten konnte, sah Tse sich bereits automatisch die Werte an, die die Monitore neben seinem Bett anzeigten. Sie wusste, dass die Werte mehr oder weniger normal sein würden. Hätte sich sein Zustand während der Nacht in irgendeiner Weise verschlechtert, hätten Ärzte und andere Schwestern sich gleich des Patienten angenommen und Tse geweckt. Dennoch musste sie ihn fragen.
»Müde. Leichte Schmerzen.« Er hob den Arm und tastete über den durchsichtigen Sprühverband, mit dem jemand die feine Schnittwunde auf seiner Stirn versorgt hatte. »Ich kann mich nicht an sonderlich viele Details erinnern. Nur an eine Menge Krach.«
In leicht rügendem Ton erwiderte Tse: »Das dürfte der Krach sein, den Sie gemacht haben, als Sie im anderen Zimmer alles in Ihrer Reichweite demoliert haben.«
»Im anderen Zimmer?« Er setzte sich ein wenig auf und musterte seine neue Umgebung. Tatsächlich: die Raumaufteilung war spiegelverkehrt zum letzten Zimmer, und das große Fenster bot eine andere Aussicht. »Ich erinnere mich nicht, verlegt worden zu sein.«
»Man musste Sie ruhig stellen. Dazu waren fünf Pfleger nötig.«
»Fünf, ja?« Seltsamerweise schien ihn die Vorstellung zu erfreuen. »Ich nehme an, das wird auf meiner Rechnung auftauchen.«
Mit der Hand verbarg Tse ihr Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte. Eigentlich hätte sie Mallory für sein inakzeptables Verhalten tadeln und mit ihm darüber reden sollen, wie sich derartige Zwischenfälle künftig vermeiden ließen. Stattdessen stand sie da und kicherte und grinste über jede Bemerkung des nicht kleinzukriegenden Patienten. Zudem wurde sie sich bewusst, dass es ihr völlig gleich war, was die Personen, die sie auf den Monitoren beobachteten, davon halten mochten.
»Ich hab das Gefühl, dass die Regierung die Kosten Ihres Aufenthalts übernehmen wird.«
»Echt?« Mallory setzte sich auf. »Vielleicht demoliere ich das Zimmer hier später auch noch. Ja, genau. Ein Zimmer pro Woche. Das würde zu meiner Gefühlslage passen!«
In dem Versuch, Ernsthaftigkeit aufkommen zu lassen, ermahnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger. »Das würde ich mir zweimal überlegen. Wenn Sie so weitermachen, verbringen Sie die meiste Zeit unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln. In diesem Zustand nützen Sie niemandem etwas.«
Sein Lächeln verblasste, und er wandte den Blick von ihr ab. »Wen kümmert das schon?«
»Mich kümmert das«, erwiderte sie schlicht.
Sogleich schaute Mallory sie wieder an. Draußen kletterte die Aquatorialsonne immer höher, flutete den Raum mit diffusem, aber dennoch hellem Licht. In Reaktion darauf verdunkelte sich das Fensterglas ein wenig, mäßigte zugleich die Helligkeit und Temperatur im Zimmer.
Mallorys Stimme klang gedämpft und dankbar. »Ich würde zu gern behaupten können, dass diese drei Worte alles wiedergutmachen, was ich durchgemacht habe.«
Sie legte die Hand auf die seine. »Solche Schmeicheleien will ich gar nicht hören, Alwyn. Das brauche ich nicht.«
»Dann glauben Sie mir?« Trotz seiner gespielten Tapferkeit spürte sie die Verzweiflung, die an ihm nagte.
»Ich glaube Ihnen, ja«, erwiderte sie mitfühlend, »aber um die anderen zu überzeugen, brauchen wir mehr als Ihr Wort. Sicher verstehen Sie das. Man kann nicht eine ganze Spezies des Völkermords und anderer unfasslicher Verbrechen bezichtigen, wenn man nicht mehr vorzuweisen hat als die Aussage eines einzelnen Mannes. Selbst die Aussage einer ganzen Schiffsmannschaft würde nicht genügen. Fühlen Sie sich bitte nicht ausgegrenzt!«
»So fühle ich mich aber!«, entgegnete er. »Ich war ausgegrenzt. Ich habe überlebt. Ich bin der einzige Überlebende. Wieso ich? Wieso nichtjemand mit einem besseren Charakter, einem großartigen künstlerischen Talent? Warum nicht ein Komponist oder ein Schriftsteller oder eine Mutter von drei Kindern? Ich bin ein Zyniker, ein Misanthrop, ein jähzorniger Einsiedler. Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit im Universum gibt, dann hätte ich als Erster sterben müssen.«
»Das wäre eine Schande gewesen.«
Er kniff die Augen ein wenig
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