Klagelied der Sterne: Der frühe Homanx-Zyklus, Bd. 2
Es ist einfach passiert. Im einen Moment war noch alles in Ordnung. Ich war gerade dabei, das Tablett mit dem Abendessen wegzuräumen, als es passiert ist.«
Nadurovina blickte in Richtung von Zimmer 54, doch überall waren hektisch hin und her laufende Menschen - der Colonel konnte nichts erkennen. Wenn es hier jetzt noch so hektisch und chaotisch zugeht, dachte sie, wie muss es dann erst vor zehn Minuten gewesen sein? »Was ist passiert? Reden Sie mit mir, Schwester! Waren es … haben die Pitar…?«
»Pitar?« Tse blinzelte und wischte sich mit dem sauberen Ärmel ihres Hemds über die Augen. »Welche Pitar? Hier sind keine Pitar.« Als Nadurovina einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß, begriff Tse, was die Psychiaterin befürchtet hatte. Falls die Pitar tatsächlich schuldig im Sinne von Mallorys Anklage waren oder ihn einfach nur als Dorn im Auge betrachteten, bestand stets die Möglichkeit, dass sie irgendwie zu ihm vordringen würden, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz der modernsten, rund um die Uhr eingesetzten Sicherheitstechnik. Doch offensichtlich hatten sie das nicht versucht.
Dass die Pitar weder anwesend noch an dem Vorfall im Krankenzimmer beteiligt waren, bedeutete andererseits (rein juristisch betrachtet), dass sie nach wie vor so unschuldig waren, wie Dmis behauptet hatte.
Tse stammelte leise: »Er ist einfach durchgedreht. Im einen Moment hat er seine Eiskrem aufgegessen und mir lächelnd und glücklich das Tablett gereicht, und im nächsten …« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es war, als sei eine Bombe in ihm explodiert.«
»Geht es ihm … gut?« Da sich Nadurovinas anfängliche Befürchtung als unbegründet erwiesen hatte, konnte sie sich nun mehr Mitgefühl leisten.
»Ich nehme es an. Ich weiß es nicht.« Die jüngere Frau sah sie Verständnis suchend an. »Ich wollte ihm helfen, ihn beruhigen, aber es war, als ob er mich nicht hören könnte. Er hat mit Dingen geworfen, Sachen kaputt gemacht.« Sie strich sich mit den Fingern über den Schnitt, den der Assistenzarzt soeben verbunden hatte, als könne sie noch immer nicht fassen, dass sie verletzt worden war. »Ich bin zu meinem Schutz rausgerannt … und um Hilfe zu holen.« Sie sah in Richtung des Krankenzimmers. »Es istjetzt schon wieder seit einer ganzen Weile still, daher nehme ich an, sie haben ihn beruhigen können. Hoffentlich … hoffentlich haben sie ihn nicht verletzen müssen.«
»Die besten Ärzte dieser Klinik können sich damit rühmen, ihn in Wechselschicht betreuen zu dürfen.« Die Psychiaterin versuchte, beruhigend zu klingen. »Ich bin sicher, es geht ihm gut.«
»Was ist mit ihm passiert, Doktor?«
»Ich weiß es auch nicht, Irene. Aber ich kann es vermuten. Er hat verzögert auf den Besuch des Außerirdischen reagiert. Sie haben ja gesehen, wie ruhig er in Gegenwart des Pitar war. Mit einer solchen Reaktion hätte ich am allerwenigsten gerechnet, ob seine Geschichte nun stimmt oder nicht. Irgendwie hat er alles unterdrückt, die völlige Kontrolle über seine Reaktionen und Gefühle behalten. Dann hat er wohl versucht, die Begegnung zu verdrängen. Und er hat es geschafft - bis sein Unterbewusstsein es nicht mehr ertragen konnte. Mit Ihrem Eindruck, dass in ihm eine Bombe explodiert sei, liegen Sie wahrscheinlich näher an der Wahrheit, als Sie geglaubt haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Menschen glauben, dass fusionsfähige Stoffe die explosivste Form von Energie enthalten.« Sie hob die Hand und tippte sich auf die Stirn. »Ich hingegen habe immer geglaubt, dass die explosivste Energie hier drin gefangen ist.« Mit finsterer Miene hockte sie sich vor die erschütterte Krankenschwester und legte ihr tröstend die Hand aufs Knie. »Wenn Sie den Patienten nicht mehr weiterbetreuen möchten, werde ich alles Nötige veranlassen.«
Tse schluckte und wischte sich wieder über die Augen. »Nein. Ich bleibe.«
Insgeheim freute Nadurovina sich über die Entscheidung. Voller Bewunderung richtete sie sich auf. »Die Hingabe, mit der Sie ihre Arbeit verrichten, ist lobenswert. Ich werde dafür sorgen, dass Sie für Ihr Engagement angemessen entschädigt werden.«
Tse hob den Blick und sah sie an. »Ich bleibe nicht, weil ich meinen Job mit Hingabe erledige.«
Nadurovina zögerte nur kurz. »Oh. So ist das also.«
Diejüngere Frau nickte. »Ja, so ist das.«
Die Psychiaterin presste die Lippen zusammen. »Das kann ich nicht gutheißen. Das ist kein professionelles Verhalten.«
Tse lachte
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