Klagelied der Sterne: Der frühe Homanx-Zyklus, Bd. 2
anderes gemeint, als er Ihnen das Wort ›nicht‹ zugeflüstert hat. Das wissen wir noch nicht. Wir wissen überhaupt nichts. Keiner kennt die Antwort außer ihm.« Er wandte sich dem Bett zu und betrachtete die darin liegende Gestalt. »Vielleicht hatten wir vorhin nur Glück, dass er aufgewacht ist, und jetzt bleibt er für immer im Koma. Womöglich war das eben aber auch ein Anzeichen dafür, dass er bald wieder aufwachen wird. Wir können bei diesem Mann keinerlei Risiko eingehen. Möglicherweise ist er völlig unbedeutend. Vielleicht wird er nur noch dazu in der Lage sein, einen oder zwei Sätze von sich zu geben. Das könnten allerdings Sätze sein, die zwanzig Milliarden Menschen hören wollen.« Er trat einen Schritt von ihr zurück.
»Bis wir wissen, was er gemeint hat, als er ›nicht‹ zu Ihnen sagte, bleiben Sie bei ihm. Gehen Sie Ihren üblichen Pflichten nach! Waschen Sie ihn, überprüfen Sie die Tropfinfusionen, mit denen wir ihm Flüssigkeit, Nährstoffe und Medikamente zuführen! Bleiben Sie in seiner Nähe!« Sein Tonfall wurde weicher. »Ich weiß, dass Sie keine Statue, keine Maschine sind. Sie können das zimmereigene 3-D benutzen. Was auch immer Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich gestaltet, wir werden es Ihnen bringen. Die Raumkameras bleiben aktiviert, nehmen alles rund um die Uhr auf. Das tun sie schon seit über einem Monat, daher brauchen Sie sich keine Sorgen darüber zu machen, dass Sie etwas Wichtiges verpassen könnten. Wenn er auch nur mit einem Augenlid zuckt, wird das aufgezeichnet und bemerkt werden.«
»Was …«, sie versuchte, sich zu sammeln, den hektischen Minuten von vorhin einen Sinn zu entnehmen, »… soll ich sonst noch tun?«
Chimbu drückte ihr sanft die Schulter. »Seien Sie da! Für ihn. Wenn er Ihnen etwas zuflüstern will, hören Sie ihm zu! Wenn er mit Ihnen reden will, sprechen Sie mit ihm!«
Sie nickte. »Wollen Sie, dass ich … dass ich ihn über Treetrunk befrage?«
Der Chefarzt dachte nach. »Nein. Das Wichtigste ist jetzt, dass sich sein Zustand verbessert. Dafür müssen wir alles tun. Ich bin noch immer der Chefarzt dieser Abteilung, und ich gebe Ihnen volle Rückendeckung. Ich schirme Sie vor der Regierung ab und auch vor dem Militär. Das werden meine Kollegen ebenfalls tun. Wenn er zu sprechen anfängt, lassen Sie ihn über alles reden, worüber er reden will. Wenn sich sein Zustand gebessert hat, machen wir uns Gedanken, ob wir ihn befragen können. Bis dahin aber steht seine Gesundheit an oberster Stelle. Keine Sorge - wenn er etwas Wichtiges sagen sollte, wird auch das aufgezeichnet!« Er ließ ihre Schulter los.
Rings um sie herum summten und klickten leise die medizinischen Geräte und Instrumente. Auf dem Bett lag die reglose Gestalt. Tse und Chimbu betrachteten sie gemeinsam.
»Sonst noch etwas, Herr Doktor?«
»Ja«, murmelte Chimbu. »Seien Sie möglichst nett zu ihm! Er braucht das.«
12
Da Tse im Laufe eines Monats nur ein Wort von dem Patienten gehört hatte, rechnete sie nicht damit, dass er bei seinem Erwachen einen regelrechten Wortschwall von sich geben würde. Doch als sie am vierten Tag, nachdem sie in das Krankenzimmer gezogen war, aufwachte und sich den Schlaf aus den Augen rieb, stellte sie überrascht fest, dass Alwyn Mallory sie anstarrte.
Ansonsten hatte sich nichts geändert; niemand hatte den Raum betreten oder etwas angerührt, doch wusste Tse, dass unten in der Zentrale Ärzte und andere bedeutende Leute mittlerweile förmlich an den Bildschirmen klebten, weil der Patient sich regte. Die müssen sich bestimmt sehr zusammenreißen, um nicht in unser Krankenzimmer zu stürmen, dachte sie, als sie sich umdrehte und die Beine aus dem aufblasbaren Bett schwang.
Mallory starrte sie nicht nur an, er hatte auch den Kopf ein wenig gehoben, um sie besser sehen zu können. Jetzt plumpste der Kopf aufs Kissen zurück, die wenigen Zentimeter, die er vorgeneigt gewesen war, hatten die geschwächte Muskulatur des Mannes zu sehr beansprucht.
»Überanstrengen Sie sich nicht!«, hörte sie sich selbst sagen. »Ich komme zu Ihnen.« Tse wusste, dass überall Kameras waren, auch im Badezimmer, daher schlüpfte sie einfach aus ihrem Nachthemd in ihre Schwesterntracht.
Als sie schließlich auf dem Stuhl rechts des Bettes Platz nahm, stellte sie fest, dass Mallory ihren Rat, sich nicht zu überanstrengen, ignoriert und ihr den Kopf zugedreht hatte. Dann lächelte er. Sein Lächeln war so unerwartet strahlend, so warm
Weitere Kostenlose Bücher