Klagelied der Sterne: Der frühe Homanx-Zyklus, Bd. 2
gingen jeden Abend, wenn die Tropensonne hinter der fernen Insel New Hanover unterging, die äquatorialen Tage in die äquatorialen Nächte über, ohne dass mehr als eine Hand voll Leute an der Spitze der Krankenhausverwaltung wussten, dass die stumme, wenig imposante Gestalt, die reglos in der Ecke von Zimmer 54 lag, der wichtigste Patient des gesamten Planeten war.
Ganz sicher wusste Irene Tse nichts davon. Im Gegensatz zu manchen Kollegen arbeitete sie in der Nachtschicht, weil sie auf diese Weise die Möglichkeit hatte, die Nachmittage größtenteils ihrem Hobby, dem Tauchen, zu widmen. Mit ihren kompakten Rehalatoren verbrachte sie mit ihren Freunden endlose Stunden in den Gewässern vor den vielen kleinen Inseln, mit denen der Ozean rings um New Ireland und New Hanover gesprenkelt war, und beobachtete die Unterwasserlandschaft, die nach wie vor als eine der beeindruckendsten und vielseitigsten der Welt galt. Mit dreiundzwanzig war sie zur Witwe geworden, als ihr Mann von einem in Panik geratenen Schwarm dreihundert Kilo schwerer Blauflossentunfische zerquetscht worden war, und seitdem hatte sie nicht wieder geheiratet. Lebhaft und temperamentvoll wie sie war, hatte sie für diverse Männer und Frauen eine Zuneigung entwickelt, doch Zuneigung ist keine Liebe, Sympathie keine Leidenschaft.
Was den reglosen Mann in Zimmer 54 anbelangte, den sein Krankenblatt als Mr Jones auswies, so war er für sie nur ein Patient wie jeder andere, um den man sich kümmern musste - ein bewusstloser Klumpen Mensch, der sich vielleicht eines Tages mehr oder minder aus seiner Starre lösen würde, vielleicht aber auch nicht. Um zwei Uhr morgens begrüßte sie die Wachen, die soeben beide ein aus Zentralasien live übertragenes Windsand-Rennen verfolgten. Obwohl sie sich inzwischen untereinander vom Sehen kannten, musste Tse ihren Ausweis vorzeigen und zusätzlich ihre Identität sowohl von einem Retinalscanner als auch von einem Herzfrequenzmesser bestätigen lassen.
Als die Wachmänner sie schließlich ins Krankenzimmer vorließen, begann sie sogleich damit, die Monitore zu überprüfen. Sie brauchte sich die angezeigten Werte nicht aufzuschreiben, denn diese wurden direkt zur Überwachungszentrale des Krankenhauses übertragen. Sie aktivierte den Levitator, bezog das Bett neu und wusch den Patienten mit einen Schwamm, während er im Magnetfeld schwebte, die Atome seines Körpers vorübergehend magnetisiert. Als sie den Feldgenerator abschaltete, sank der Patient in seinem frischen Krankenhauskittel sanft auf das frisch bezogene Bett.
Tse wollte soeben den Subkutaninjektor auf eine andere Stelle seines Torsos setzen, als sie eine Berührung am Arm spürte.
Möglicherweise hielt sie für eine Sekunde oder zwei die Luft an. Sie wusste es nicht genau. Was sie hingegen wusste, war, dass Finger ihre Haut berührt hatten. Sie senkte den Blick und sah, dass die linke Hand des Patienten ihr über das Handgelenk gestrichen war. Zweifellos gegen ihr Gelenk gefallen. Sie wollte sich den Vorfall gerade aufschreiben, als sich zwei der Finger, der Mittel- und Zeigefinger, hoben. Zitternd berührten sie Tse ein zweites Mal, ehe sie zurücksanken, als seien sie vom eigenen Gewicht erschöpft.
Tse sah auf und stellte fest, dass die Finger nicht das Einzige waren, was sich bewegt hatte. Der Patient hatte ihr den Kopf zugedreht. Vielleicht hat sich der Kopf auch einfach nur in diese Position geneigt, als der Patient aufs Bett zurückgesunken ist, überlegte sie. Über die offenen Augen wunderte sie sich nicht- der Mann öffnete siejeden Morgen, starrte ins Leere, und schloss siejeden Abend. Über das feuchte Glitzern im Augenwinkel hingegen wunderte sie sich schon. Vielleicht nur Wasser, das sie nach der allabendlichen Waschung des Patienten nicht mit dem weichen Handtuch abgetupft hatte. Das ließ sich schnell und leicht überprüfen.
Sie beugte sich vor, wischte mit dem Finger den dünnen Wasserfilm ab und führte den Finger zum Mund. Auf der Zunge schmeckte sie den unverwechselbar salzigen Geschmack. Das war kein Wasser, sondern Tränenflüssigkeit.
Warum sie ihre Gedanken aussprach, wusste sie nicht; es war keine bewusste Entscheidung, sondern eine automatische Reaktion. »Ich rufe den diensthabenden Arzt«, flüsterte sie. Als sie sich abwenden wollte, streckte der Patient plötzlich alle fünf Finger der linken Hand aus und packte mit eisernem Griff ihr Handgelenk.
Seine Lippen zitterten, Lippen, die mit behandelten Tüchern und teuren
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