Klammroth: Roman (German Edition)
nicht erkennen, ob es nach wie vor offen stand. Neles Gesicht ruhte an ihrer Schulter wie das eines Neugeborenen, und wäre nicht ab und an ein Zucken durch den Körper unter der Decke gelaufen, hätte sie tot sein können.
Die Luft roch nach Regen, nach Erde und nassem Holz. Aber das konnte nicht alles sein. Da war immer etwas anderes gewesen, so sehr Teil von alldem hier wie das Flattern und Flüstern und die unsichtbaren Hände. Der Gestank nach verbranntem Haar. Sie hatte ihn bislang jedes Mal wahrgenommen, doch jetzt war er nicht da. Als hätte der Tunnel sich ein für allemal geschlossen.
Vielleicht war ja noch etwas nötig. Ein letzter Schritt. Gewissheit.
»Nele«, flüsterte sie.
Die Verbrannte nickte schwach.
»Du hast nach mir gerufen, hat Sebastian gesagt.«
Ganz zaghaft: »Ja, hab ich.«
»Warum?«
»Weil sie mir gesagt haben, dass du der Schlüssel bist.«
»Sie haben mit dir gesprochen?«
»Manchmal, ja.«
»Was bedeutet das, der Schlüssel?«
Ein Scharren ertönte, nicht weit entfernt. Sie konnte es inmitten des Unwetters keiner Richtung zuordnen. Ihr Blick schwenkte durch die Trasse zurück, dorthin, wo in der Schwärze der Waldrand sein musste, aber dort war nichts zu erkennen.
»Nele«, sagte sie noch einmal. »Warum ausgerechnet ich?«
»Du weißt es wirklich noch immer nicht?«
Vielleicht schon. Es war mehr als eine Ahnung und doch eher ein Gefühl als konkretes Wissen. Das genügte noch nicht. Ihr nicht und wohl auch ihnen nicht.
»Du hast niemals in einem der Busse gesessen«, sagte Nele.
Trotz aller Vorahnung traf es Anais wie ein Schlag. Zugleich grub sich eine Hand in ihr Inneres und zerrte etwas zum Vorschein.
»Du warst gar nicht bei uns.«
Hundert Jahre vergingen. »Nein«, sagte Anais schließlich mit schwacher Stimme, »war ich nicht.«
»Ich hab dich gesehen«, raunte Nele, woher sie auch immer die Kraft dazu nahm. »Ich war im ersten Bus, ganz vorn bei Eriks Vater … Sebastian saß hinten auf der letzten Bank, er hatte mich weggeschickt, weil er –«
»Weil er ungestört sein wollte«, brachte Anais ihren Satz zu Ende. »Ungestört mit Christina.«
Nele sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Anais hatte es damals gewusst, und dieses Wissen war nie ganz fort gewesen. Nur verschüttet oder totgeschwiegen in der Hoffnung, dass es einfach aufhören würde wie ein Zahnschmerz.Sebastian hatte mit ihr Schluss gemacht, wenige Tage vor der Katastrophe, und für sie war es das Ende der Welt gewesen. Der Grund hatte es nur noch verschlimmert: Sebastian und ihre beste Freundin, ihre einzige wirkliche Freundin, waren jetzt zusammen. Anais war tagelang nicht mehr zur Schule gegangen und hatte sich geweigert, an dem Ausflug teilzunehmen. Ihr Vater hatte die Krankmeldung abgezeichnet, natürlich, er war der Schuldirektor. Nicht Verständnis hatte ihn dazu bewogen, sondern Hilflosigkeit. Sie war seine einzige Tochter. Sie hatte ihm schlicht keine Wahl gelassen.
Doch statt zu Hause zu bleiben war sie an jenem Tag hinauf zum Tunnel gestiegen. Hatte die dunkle Röhre betreten und gewartet. Es wäre lächerlich gewesen, hätte es nicht so furchtbare Folgen gehabt. Sie hatte sich in ihrer pubertären Verzweiflung vor die Busse werfen wollen, und alle hatten es mitansehen sollen. Vor allem Sebastian und Christina. Sie hatte sich die Szene wieder und wieder ausgemalt, bis ihre Todessehnsucht sich so echt angefühlt hatte wie ihre Eifersucht und die Zurückweisung. Ein naiver, verwirrter Teil von ihr hatte angenommen, dass sie ohne ihn nicht weiterleben konnte. Die beiden einzigen wichtigen Menschen in ihrem Leben hatten sie hintergangen und von sich gestoßen. Sie war verraten und erniedrigt worden, so wie vor ihr Millionen andere, aber im Gegensatz zu ihnen hatte sie die Konsequenzen ziehen wollen.
Anais hatte im Dunkeln gestanden und darauf gelauscht, wie die vier Busse die Serpentinen heraufgerollt kamen, das Brummen der Motoren, das Krachen der Schaltungen, und sie hatte sich vorgestellt, wie Sebastian und Christina in einem davon saßen und was sie miteinander taten, und sie hatte nur gewollt, dass alles vorbei war und sie nie wieder daran denken musste.
»Ich hab dich im Scheinwerferlicht gesehen«, flüsterte Nele an ihrer Schulter. »Du bist plötzlich auf die Straße getreten. Eriks Vater hat gebremst und die Kontrolle verloren und –«
Ihre dünne Stimme verklang allmählich. Aber Anais sah auch so wieder alles vor sich. Wie der erste Bus sich
Weitere Kostenlose Bücher