Klammroth: Roman (German Edition)
Hubschrauber transportiert worden.«
»Warum hat man den Tunnel nicht einfach zugemauert?«
»Weil man Mauern einschlagen kann. Der Tunnel hat schon immer eine ungute Anziehungskraft auf alle möglichen –« Er brach ab, wohl weil ihm bewusst wurde, was er gerade hatte sagen wollen.
»Auf alle möglichen Verrückten gehabt«, beendete Lily den Satz für ihn. »Nicht schlimm. Meine Mutter war nicht ganz normal, ich weiß das.«
»Sie war nicht verrückt«, widersprach er kopfschüttelnd. »Ich hab schon eine Menge Irrer erlebt, aber Ihre Mutter war keine davon.«
»Viele Leute waren da anderer Meinung.«
Er schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber bleiben. Vielleicht hatte er dieses Gespräch schon zu oft geführt. Oder es war alles zu lange her, um noch aus tiefster Überzeugung argumentieren zu können.
»Jedenfalls«, nahm er den Faden wieder auf, »ist das da vorne Stahlbeton, über einen halben Meter dick. Dem müsste man schon mit Sprengstoff zuleibe rücken.«
»Apropos«, sagte sie, »was ist aus den Plänen geworden, den Tunnel zu sprengen?«
»Es gab Gutachten und Gegengutachten, aber am Ende hieß es, der ganze Hang würde davon destabilisiert. Niemand wollte das Risiko eingehen, dass die Zufahrt zur Brücke verschüttet würde.«
Ein Trampelpfad führte durch einen Wall aus hohen Brennnesseln und Disteln. Lily stieg die Bruchkante des Asphalts hinauf und folgte Herzog in den Schatten der Mauern. Auch unter dem Efeu waren ausgebleichte Graffiti zu erkennen. An manchen Stellen sah es aus, als wären die Ranken durch die Symbole gewachsen, eine bizarre Symbiose aus Pflanzen und Schrift.
Einige der Muster mochten abstrakte Darstellungen von Flammen sein, rote Strukturen aus Wellen und Spitzen, über die andere Künstler ihre Zeichen gesprüht hatten.
»Hat das alles irgendwas zu bedeuten?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Es kommen immer wieder neue dazu, und hier oben macht sich niemand die Mühe, sie zu entfernen. Sie sprayen und pinseln eine Schicht über die andere. Weiß der Teufel, wer die sind und was sie alle an diesen Ort zieht.«
»Wie gründlich ist der Tunnel damals untersucht worden?«
»Jeder Quadratzentimeter. Wir alle haben mit angesehen, wie Ihre Mutter hineingegangen ist. Sie hatte die arme Nele Teusner im Arm wie ein Kind.« Seine Wangenmuskeln bewegten sich, als hätte er Schmerzen. »Verstehen Sie, wir haben das gesehen – soweit das bei dem Wetter eben möglich war. Und die andere Seite des Tunnels war versperrt. Dort drüben ist alles überprüft worden, die Oxidation des Metalls, wirklich jedes Detail. Es hat nie einen Zweifel gegeben, dass das Westtor seit Jahren unberührt war. Und trotzdem …«
Lily trat vor die Betonwand und legte eine Hand darauf. Ein Vogel schrie im Dickicht oberhalb des Tors. Die Efeuranken bewegten sich leicht, als hätte jemand von innen gegen einen Schleier geatmet.
Die Fußabdrücke ihrer Mutter hatten damals nur wenige Meter weit gereicht und waren dann abgebrochen. Außerdem hatte Neles Decke da gelegen. Dazu kamen Spuren, die ein oder zwei Tage älter gewesen waren, offenbar war sie zuvor schon einmal im Tunnel gewesen. Es hatte auch Hinweise gegeben, dass Leonhard von Stille in jener Nacht mit am Tor gewesen war, Schuhabdrücke, die mit denen im Blut auf dem Boden des Teusnerhotels übereinstimmten. Doch keiner der Männer, die mit ihren Taschenlampen den Hang heraufgekommen waren, hatte ihn gesehen.
»Das hier ist wahrscheinlich der richtige Moment, um Ihnen etwas zu geben«, sagte Herzog.
Lily drehte sich zu ihm um.
Er zog ein altes Smartphone aus seiner Jackentasche. »Ihre Mutter hat es damals liegen lassen, als sie mich in ihrem Hotelzimmer eingesperrt hat. Ich dürfte das nicht rausgeben, aber es ist eh schon doppelt und dreifach ausgewertet worden. Und es funktioniert noch, ich hab’s für Sie aufgeladen. Die Nachrichten, die Ihre Mutter während der Tage in Klammroth an Sie geschrieben hat, sind alle noch gespeichert. Was fehlt, sind Ihre Antworten.«
Sie nahm das Gerät entgegen und schaltete es ein. Im Display erschien das Foto einer kleinen Brücke, vermutlich über einer Gracht in Amsterdam. Es war keine Sehenswürdigkeit, das Motiv war völlig unscheinbar. Erst nach einem Moment wurde ihr bewusst, wen ihre Mutter vor dieser Kulisse zu fotografieren geglaubt hatte. Der Gedanke tat so weh, dass Lily das Handy rasch einsteckte.
»Danke.« Ihre Stimme zitterte leicht. Sie wandte sich wieder der Wand zu,
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