Klammroth: Roman (German Edition)
brachte. Dabei kugelte sie sich fast die Schultergelenke aus. Auf einmal war ihr Oberkörper frei, nur ihre Hände waren noch an die hinteren Stuhlbeine gebunden.
Der alte Mann schlug Sebastian ins Gesicht. Die Frau hob zu einem neuen Schrei an. »Herrgott noch mal!«, rief von Stille und trat zu ihr hinüber.
Anais zerrte an ihren Händen. Die schweißnasse Haut glitt ein Stück unter dem Seil hervor, aber dann war ihr Daumengelenk im Weg.
Von Stille holte seitlich mit dem Bajonett aus und schlitzte der Frau mit einem einzigen Hieb die Kehle auf. Ihre Stimme erstickte in einem Gurgeln, während ihr Schädel zur Seite kippte und in falschem Winkel auf ihrer Schulter liegen blieb. Die Wunde klappte auseinander wie der Verschluss einer Handtasche. Blut spritzte bis auf Neles Decke.
Sebastian schrie und randalierte mit letzter Kraft. Noch zögerte von Stille, auch ihn zum Schweigen zu bringen.
Endlich löste sich Anais’ linke Hand aus der Schlaufe. Sie war jetzt nur noch mit der Rechten an den Stuhl gefesselt. Vielleicht konnte sie aufstehen und ihn als Waffe benutzen, aber, nein, dafür saß die Fessel zu eng. Sie würde nicht heftig genug zuschlagen können, um von Stille außer Gefecht zu setzen, und dann wäre sie ihm ausgeliefert. Besser sie nutzte die verbleibenden Sekunden, ehe er sich umdrehte.
Doch auf der rechten Seite saß die Fessel viel enger, ihr Daumen passte einfach nicht hindurch. Und wenn sie aufstand, um mit links an den Knoten heranzukommen, musste von Stille das bemerken.
In der Ferne ertönte das Heulen einer Polizeisirene. Vielleicht auch von mehreren Wagen, die sich im Dunkeln dem Hotel näherten.
Nele imitierte den Ton mit ihrer heiseren Stimme.
Von Stille wandte sich von Sebastian ab und ging zu einem der Fenster hinüber. Er bewegte sich nicht wie ein Greis, nicht einmal wie ein alter Mann. Als er den Vorhang einen Spalt weit öffnete, konnte Anais schemenhaftes Blaulicht erkennen, das um die Silhouetten der verwilderten Weinreben auf der anderen Seite des Bergmühlwegs geisterte. Die Polizeiwagen befanden sich weiter unten, irgendwo auf der Straße, die den Hang heraufführte. Sie fragte sich, ob Herzog nach allem nun doch noch glaubte, dass sie für den Mord an ihrer Stiefmutter verantwortlich war.
Sie stieß einen zornigen Schrei aus, als sie erneut an ihrer gefesselten Hand zerrte. Von Stille wirbelte herum. Er war gut sechs Meter entfernt, konnte aber mit wenigen Schritten bei ihr sein und sie ebenso schnell töten wie die Polin.
Sie sprang auf und zerrte den Stuhl mit einem Poltern vor sich. Dabei brach sie sich fast das Handgelenk.
Von Stille kam lächelnd vom Fenster herüber und blieb hinter Sebastian stehen. Der versuchte nicht einmal, hinter sich zu schauen. Er sah nur Anais an. Eine merkwürdige Ruhe legte sich über seine Züge. In seinen Augen las sie, dass er wusste, was geschehen würde.
Wieder schrie sie auf, rasend vor ohnmächtiger Wut.
Das Bajonett zuckte vor. Von Stille rammte es bis zum Anschlag in Sebastians Hals, hebelte es frei und zerfetzte ihm die Luftröhre.
Noch lauter als Anais brüllte Nele, die nicht sehen konnte, was geschah, und es dennoch zu spüren schien, so, alswäre ein unsichtbares Band zwischen ihrem Bruder und ihr durchtrennt worden.
Von Stille stieß den Sterbenden mit dem Stuhl nach vorn. Sebastian fiel aufs Gesicht, während sich ein vielzackiger Stern aus Blut über das Parkett ergoss. Anais fiel neben ihm auf die Knie und versuchte zugleich, den verdrehten rechten Arm mit dem Stuhl zwischen sich und von Stille zu bringen.
Doch der hatte gar kein Interesse daran, sich ihr zu nähern. Behutsam nahm er die Klinge des Bajonetts zwischen zwei Finger und rieb den Griff mit seinem Regenmantel ab. Dann warf er die Waffe zu Anais herüber. Sie schepperte neben ihr auf den Boden und drehte sich wie eine Kompassnadel.
Das Heulen der Sirenen wurde lauter und vermischte sich mit Neles Geschrei.
Von Stille sah Anais an, schüttelte bedauernd den Kopf und eilte mit wehendem Mantel aus dem Saal. Sekunden später schlug eine Tür zu, er musste den nächsten Weg ins Freie genommen haben. Ihm blieb genug Zeit, um von der Rückseite des Gebäudes aus in die Weinberge zu entkommen.
Anais rollte Sebastian herum und sah in sein Gesicht. Seine toten Augen standen offen, weiße Ovale in einer tiefroten Maske.
Einen Moment lang wollte sie aufgeben, einfach nur eine Geisel sein, die gefunden und befreit wurde – und der man kein Wort glauben
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