Klammroth: Roman (German Edition)
ein infernalisches Orchester auf lebenden Instrumenten. Eine Wand aus Gebrüll und Geheul schob sich aus der Dunkelheit jenseits derTunnelbiegung auf den Ausgang zu, wehte ins Freie und legte sich über den bewaldeten Hang.
Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, kam langsam über die Mittellinie heran, aufrecht, schmal, verloren, mit hellblondem Haar, das bis zu ihren Ellbogen reichte. Das Mädchen, vielleicht sechzehn, trug ein kurzes rotes Kleid, schwarze Strümpfe und schwere Schuhe. Noch war es im Schatten des Tunnels kaum sichtbar, als hingen Lagen grauer Spinnweben zwischen ihm und dem Ausgang. Es bewegte sich ohne Eile, während sich hinter ihm die Dunkelheit zu einer Staubwolke ballte und ihm brodelnd Richtung Sonnenlicht folgte.
Die Explosion, die im nächsten Augenblick den Berg erschütterte, schien machtvoll genug, um den uralten Stein zu spalten. Ganz hinten im Tunnel, jenseits des Mädchens und des Staubs, blitzte Helligkeit auf, erst weiß glühend, dann golden wie geschmolzener Stahl. Eine Hitzewelle trieb die Dunstwolke vor sich her. Sie erreichte das Mädchen, als es gerade ins Tageslicht trat, und riss es fast von den Füßen. Aber wie durch ein Wunder hielt es sich aufrecht, setzte seinen Weg fort, umtost von Rauch und Staub und – jetzt! – einer fauchenden Feuerlohe.
Funken knisterten in wirbelndem Haar, und in der nächsten Sekunde leckten Flammen über sein Haupt, eine Krone aus tanzender Glut.
Doch das Mädchen ging weiter, lodernd wie ein Streichholz, Schritt um Schritt auf dem Mittelstreifen, am Hinterkopf ein Schweif aus Feuer.
E RSTER T EIL
DIE VERBRANNTEN
Siebzehn Jahre später
1
»Schalte das Licht nur schnell genug ein, und du kannst die Dunkelheit sehen.«
»Papa? Bist du das?«
Anais tastete nach der Nachttischlampe, stieß dabei das Nasenspray um und hörte das Glas am Boden zerspringen. Sie hielt den Hörer vom Mund weg, fluchte und zog ihn wieder an die Lippen.
»Papa?«
»Du kannst sie sehen«, flüsterte er heiser durchs Telefon. »Du musst nur schnell genug sein.«
Sie fragte ihn nicht, ob er wusste, wie spät es war. Die Ärzte sagten, er wisse nicht mal mehr, was eine Uhr war.
Die Lampe flammte auf, als sie den Schalter endlich fand, und schuf eine enge Kapsel aus Helligkeit rund um das Kopfende des Betts, ein Lichtkokon inmitten tiefer Nacht.
Ihr Vater sprach ausschließlich am Telefon mit ihr, niemals, wenn sie ihn im Heim besuchte. Darum fühlte es sich an, als käme seine Stimme aus der Vergangenheit, ein Echo ihrer Kindheit. Manchmal suchte Anais in sich nach Anzeichen von Freude darüber, dass er redete, aber sie fand keine. In dieser Nacht so wenig wie in all den anderen.
»Sie sind vor dem Fenster«, raunte er mit bebender Stimme. »Nachts kann ich sie vor den Scheiben sehen.«
»Wen denn, Papa?« Selbst das wenige Licht war eine Zumutung. Sie ließ den Kopf zurück ins Kissen sinken undpresste sich die linke Armbeuge auf die Augen. Die Helligkeit drang wie glühender Staub darunter. »Wer ist vor deinem Fenster?«
»Leere schwarze Müllbeutel«, sagte er. »Sie flattern da draußen in der Nacht. Flattern und wehen und flüstern.«
Anais setzte zu einer Erwiderung an, presste dann aber doch nur die Lippen aufeinander.
»Sie bleiben immer am Rand des Lichts. Gerade noch am Rand des Lichts.«
Sie hob den Arm vom Gesicht und blickte hinüber zum Radiowecker. Viertel nach zwei. Um halb sechs musste sie aufstehen, um ihren Flug zu erwischen.
»Leere schwarze Beutel«, sagte ihr Vater und legte auf.
2
Zwei Wochen später steuerte Anais einen gemieteten Subaru am Fluss entlang. Die neue Straße, in Wahrheit schon lange nicht mehr neu, war durch den prasselnden Regen kaum zu erkennen. Die Scheibenwischer bemühten sich redlich, aber sie kämpften auf verlorenem Posten.
Lily, ihre vierzehnjährige Tochter, saß auf dem Beifahrersitz und checkte zum fünfzigsten Mal ihre Nachrichten. Das Smartphone gab trillernde Laute von sich. Lily lächelte über etwas, das eine ihrer Freundinnen geschrieben hatte. Dabei legte sie die Stirn unter dem Rand ihrer Wollmütze in Falten. Die Heizung lief, es war warm im Wagen, aber die Mütze saß wie angewachsen. Lilys dunkelblondes Haar quoll darunter hervor und fiel wirr über ihre Schultern. Die Finger ihrer linken Hand spielten unablässig mit einer Strähne, zwirbelten und kneteten sie.
Wieder piepste das Smartphone.
»Kannst du das Ding mal auf Stumm schalten?«, fragte Anais.
Lily nahm den
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