Klang des Verbotenen
dem Ankleidezimmer. Auch Ihr werdet es erleben. Vielleicht sogar in diesem Augenblick. Still!«
Ein solcher Moment aber war noch nicht gekommen.
Majestät erschien hinter einem Vorhang. Escarlati hörte ein eigenartiges, klickendes Geräusch, das er zunächst nicht einordnen konnte. Es klang wie das Rechnen auf einem Abakus. Dann sah er, dass der Monarch barfuß war. Seine Zehennägel waren lang und krumm wie Krallen, seit Monaten ungeschnitten, und klapperten auf dem Steinboden.
Felipe trug zwei Schlafröcke übereinander, die er beide vor dem Bauch mit einem Griff der linken Faust zusammenhielt. Er war unrasiert, bleich, übernächtigt, als habe er nur 3 Stunden geschlafen und nicht 33. Domingo dachte an den Witz von den zwei Katzen – die eine sagt zur anderen: Habe heut nur 23 Stunden geschlafen, bin dermaßen übernächtigt …
Es roch muffig, nach all den Dingen, die man im Bett tut, auch nach Tod.
Man hatte den Herrscher offensichtlich in der Zwischenzeit, das heißt, irgendwann in den Jahren, nachdem Escarlati in Italien der Majestät Bekanntschaft gemacht hatte, ausgetauscht – das prunkvolle Gemälde eines Hofmalers gegen eine krakelige Kinderzeichnung: diejenige eines verrunzelten, alten Mannes. Die Perücke mochte noch dieselbe sein wie damals, doch schütter und zerzaust inzwischen auch sie, mitgealtert zu einem Lumpen. Nichts sonst aber erinnerte an den schlanken, zuvorkommenden, leutseligen Vizekönig von Napoli.
Escarlati stand erstarrt neben dem Sekretär, der auf das Handzeichen, sich entfernen zu dürfen, wartete und es auch bekam – es sah aus, als würde man ein Papierknäuel fortwerfen –, woraufhin er sich empfahl und schnellen Schrittes verschwand.
Die Krallen hinderten den König ein wenig am Vorwärtskommen, doch schaffte er es bis zu einem vergoldeten Sessel, vor dem er sich aufrichtete, seinen Hintern allerdings schon zielend auf die gepolsterte Sitzfläche angesetzt – damit zufällig Escarlatis Position zuvor beim Endspurt vom Sofa einnehmend –, und Escarlati ächzend seine Hand entgegenstreckte.
Leider bemerkte der König Domingos verstohlenen Blick auf seine bloßen Füße, zog die Hand zurück und erstarrte in der Bewegung – und Escarlati dachte schon: Jetzt ist alles aus, sah schnell mit harmlosem Augenaufschlag da- und dorthin, nur nicht nach unten.
»Ich kann sie zurzeit nicht schneiden«, sagte der Herrscher jedoch ganz sachlich, als ginge es um eine Truppenbewegung, die momentan zu unterbleiben habe, »denn …« Er brach mitten im Satz ab, lächelte und streckte die Rechte zum zweiten Mal aus.
Einiges sprach dafür, dass Felipe V. ihm anstatt des erwarteten Handschlags eine lockere Süßspeise oder gar das Gehirn übergab – Escarlati hatte dem König als Zeichen von Herzlichkeit seine beiden Hände entgegengestreckt und darin eine weiche, gewichtslose Substanz empfangen. Was in aller Welt war aus den königlichen Händen geworden?
Domingo ließ sich nichts anmerken, drückte aber nur leicht zu, um die königliche Masse, welche doch noch unzählige Urteile zu unterschreiben, ja vielleicht sogar Armeen in Marsch zu setzen hatte, nicht etwa zu beschädigen.
»Wir freuen uns unbändig, Euch nach so langer Zeit wiederzusehen«, sprach Felipe und klang dabei dermaßen unentschlossen, dass Escarlati sich einen Moment lang einbildete, des Königs Lippen hätten sich stumm weiterbewegt und ein »Oder nicht?« nachgeschoben. »Und wir sind überaus neugierig (Oder auch nicht?) auf Eure Musik. Wann können wir etwas davon hören? Vielleicht heute Abend?«
Wir. Aus dem Pluralis Majestatis war ein ganz realer Plural geworden, verstärkt durch die doppelte Schale aus Frauen- und Männerkleidung, die Domingo erst jetzt bemerkte.
Er drückte gleichfalls seine überschwängliche Freude über das Wiedersehen aus.
»Sevilla ist eine wunderbare Stadt (Oder nicht?)«, fuhr der König fort. »Ihr werdet Euch hier sicherlich wohlfühlen, genauso wie wir (Oder nicht?).«
Escarlati bejahte höflich, obwohl ihm diesbezüglich gerade substanzielle Zweifel kamen, wurde aber sogleich unterbrochen.
»Die Nagelschere könnte nämlich vergiftet sein«, nahm Felipe V. den schon verloren geglaubten Faden wieder auf, »ebenso wie das Rasiermesser, der Kamm, meine Kleider, die Seifen, Tinkturen, einfach alles! Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was das für Schwierigkeiten macht! Zum Beispiel: Meine Kleider dürfen nicht an meine Haut. Sie könnten mit Gift getränkt sein. Also musste
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