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Klang des Verbotenen

Klang des Verbotenen

Titel: Klang des Verbotenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Febel
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nicht mehr zur Stadt gehörend und bereits freie Natur. Büsche waren unregelmäßig verteilt zwischen Pfaden, in die Grasnarbe gekratzt, die alle Buden und Hütten, welche den Platz umsäumten, auf kürzesten Wegen miteinander verbanden. Es war dunkel, doch noch nicht Nacht, wie Escarlati in den engen Gassen hinter sich gedacht hatte.
    Am Himmel war die Hölle los. Feuergeränderte Wolken zogen zu Hunderten ins dunkle, östliche Blau, während im Westen, unterhalb des Horizonts, vielleicht in den Americas, etwas Großes brannte, wohl ein ganzes Land. Dessen Widerschein am Himmel war makellos, ohne Struktur wie ein Glutfleck am Holz, wenn man dagegenbläst. Hoch über der hundertfachen Wolkenformation lag eine weitere, zarte Schicht aus Fasern, Wolkenstreifen und Fetzen, der äußerste, schon vom Eis des Universums angegriffene Kokon der Weltkugel. Dahinter Schwarz.
    Auch die Büsche waren schwarz und ebenso die Gestalten dazwischen. Escarlati trat näher.
    Der Sänger, ein dunkler, wilder Mann, stand in der Mitte einer Gruppe von Menschen, die saßen, kauerten oder sich im Rhythmus der Musik bewegten, Männer, Frauen, Kinder. Zwei junge Kerle bearbeiteten die Saiten ihrer Vihuelas, entschlossen und versunken, als ginge es um Leben oder Tod. Zwei alte Frauen klatschten den Takt, unverrückbar, aber ineinander verschränkt, jede von ihnen nur jeweils den zweiten Schlag. – Escarlati verstand augenblicklich, wie schwer das war. Eine Frau, fast völlig im Dunkel und mit wehendem Gewand, dessen Rot zu leuchten schien, kreiste und wand sich zur Musik, sparsam, noch nicht im Tanz, aber in Vorbereitung dazu.
    Die Musik? Domingo vergaß alles andere und starrte den Sänger an.
    Als das Lied – das Lied? der Schrei! – zu Ende war, schritt der Sänger nach vorn auf das Publikum zu, drehte sich dann um, elegant wie jemand, der im Begriff ist, für immer zu gehen – mit einer wegwerfenden Bewegung der Rechten über die Schulter, die Verschiedenes bedeuten konnte: Geht zum Teufel! Lasst mich! Das war doch gar nichts, ein Kinderspiel! Was seid ihr für Memmen! Oder auch: Verflucht sei dieses elende Leben!
    Die Zuhörer schrien auf und wollten mehr, doch das Rufen war ganz und gar unnötig, denn niemand dachte ans Aufhören, nicht die Gitarristen und schon gar nicht der Sänger. Er kam sogleich aus dem Dunkel zurück, stellte sich breitbeinig auf, patschte, zunächst unhörbar und langsam, die Hände ineinander, als ertaste er den Rhythmus des nächsten Liedes an einem Klumpen Teig.
    Eine neue Melodie erhob sich langsam wie ein aus Träumen Erwachender, ohne Kontur zunächst, doch schon mit einer Seele. Woher fing der Sänger sie auf? Aus dem Nährboden der Gitarrenarpeggien, der leisen Klatschgeräusche, des Gemurmels, der anfeuernden, doch noch verhaltenen Rufe erwuchs sie, schon vorbestimmt, so wie die Zutaten ein Gericht derart umschreiben, dass man es schon riecht, bevor es gekocht ist – und doch frei und ungezähmt.
    Escarlati war erschrocken und begeistert zugleich. Wie es Dinge gibt, über die man nicht spricht, so gibt es auch Dinge, die man nicht singt – das sagte der Schöngeist in ihm. Oder Papa?
    Doch ein anderes Ich, das schon lange in ihm gefangen saß, arbeitete nun daran herauszukommen und witterte seine Chance, kämpfte darum, sich endlich zu befreien, zu toben, ein Geschrei zu erheben statt der ewigen Triller, höflichen Arabesken und Kadenzen.
    Noch stand Escarlati im Dunkel, gegen eine verfallene Mauer gedrückt. Ein Mann wankte auf dieselbe Wand zu, ließ sich neben ihm vornüber kippen, stützte sich gerade noch rechtzeitig in Kopfhöhe mit der Linken ab, ächzte, nestelte an seiner Hose und pisste gegen den Stein, von dem Meister keine Notiz nehmend.
    Weiter weg schleppte eine Frau einen anderen jungen Mann hinter sich her, dabei stolpernd und sich wieder fangend, drehte sich dann, presste ihren Rücken in einen Winkel und zog den Kerl an sich. Escarlati wollte wegsehen, konnte aber nicht und sah einen zweiten, der die Hose öffnete, doch aus anderem Grund, und dann weiß glänzende Knie, aufblitzend wie zwei Mondscheiben, hörte oder ahnte dazu Gestöhn, denn die Musik wurde wieder lauter, und auch dort, auf der Bühne, wurde gebrüllt.
    Langsam wagte sich Escarlati aus der Deckung und folgte dem Sog, der von der improvisierten Bühne ausging. Aus allen Richtungen schritten nun Menschen auf das Zentrum zu. Die Musiker standen im Brennpunkt und tobten, vom Feuer erhellt. Das herbeiströmende

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