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Klang des Verbotenen

Klang des Verbotenen

Titel: Klang des Verbotenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Febel
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die königliche portugiesische Familie während einer öffentlichen Verbrennung in demjenigen Salon des Palastes Platz nahm, dessen Fenster dem im Innenhof aufgebauten Scheiterhaufen am nächsten waren. Ein ungeschriebenes Gesetz lautete nämlich, dass die Schreie des Delinquenten, seine Rufe nach Gnade, das Ohr des Monarchen gut hörbar zu erreichen hatten, und so saß König João als Erster in der Sesselreihe, im prunkvollsten, dem Fenster nächstgelegenen, mit bequemen Armlehnen ausgestatteten Stuhl.
    Warum dies? Hatte der König je einen Verurteilten begnadigt? Nein. Hatten die furchtbaren Schreie, hatte das Grauen je des Monarchen Herz erreicht, ja gar berührt, ja gar bewegt, ja gar erweicht?
    Welches Herz?, dachte Domingo, der den grausamen, eitlen, frömmelnden, gefürchteten, schlaudummen Mann hasste.
    Die ganze Königsfamilie saß also da, aufgereiht nach Wichtigkeit, Alter und Rang. Auf weiteren Stühlen und Bänken, sozusagen zweiter Klasse, weil ohne Sicht auf das Geschehen, saßen andere geladene Gäste, die Priesterschaft, Gesandte, vom Delinquenten Geschädigte – was auch immer das heißen mochte, handelte es sich doch stets um einen Gotteslästerer, und somit hätte wohl Gott selbst dort Platz nehmen müssen.
    Doch der kam nie. Und auch der damals elfjährigen Prinzessin hatte man die Teilnahme – dies vielleicht zu ihrem Glück – verwehrt.
    »Du bist noch zu klein für so etwas«, hatte der Herrscher ihr erklärt und ihr dabei das Haar gestreichelt.
    Für Escarlati aber gab es kein Entkommen. Er war nicht zu klein, auch strich ihm niemand tröstend übers Haar. Die Einladung abzulehnen, wäre einer Beleidigung gleichgekommen, vielmehr hatte man es als Ehre zu betrachten, der Zeremonie beiwohnen zu dürfen. So oft gab es nicht die Gelegenheit dazu, höchstens alle paar Wochen einmal – die guten alten Zeiten sind vorbei, hatte ein hoher Würdenträger einmal gescherzt.
    Prüfte der Herrscher die Urteilssprüche nach? Auf diese Frage – die zu stellen Escarlati wenigstens gewagt hatte, in aller Bescheidenheit – winkte Seine Majestät ab: »Das hat schon seine Richtigkeit. Und woher sollten wir auch die Zeit dazu nehmen? Da gibt es Wichtigeres zu tun, nicht wahr, mein lieber Escarlati?«
    Es hatte also seine Richtigkeit. Domingo saß auf einem Platz zweiter Kategorie, einem der besseren immerhin, denn zumindest mit eingeschränkter Sicht – er konnte Fahnen erkennen, die im Wind flatterten, den Teil einer Tribüne, Menschen darauf, Köpfe, die sich aus gegenüberliegenden Fenstern beugten sowie den obersten Teil einer Art Skulptur aus aufgeschichteten und verflochtenen Zweigen und Ästen, mit Stroh gestopft und durch ein paar Holzbalken stabilisiert.
    Dann hörte er marschartige Musik (draußen), man reichte Kakao (drinnen), es ertönten schrille, offiziell klingende Verlautbarungen, die er nicht verstand (draußen), Seufzer und hysterisches Kichern (drinnen), und die Zeremonie nahm ihren Lauf. Das Ganze dauerte seine Zeit, und Escarlati sah vor sich hin. Feuer an sich – abgesehen vom Knacken des Brennmaterials – ist lautlos, und so bekam Domingo den Moment, in dem der Scheiterhaufen entfacht wurde, nicht mit. Doch auf einmal wurde es totenstill (draußen), dann murmelte jemand (auch draußen): ein Gebet? Und eine Hofdame rief erregt: Jetzt! (drinnen). Dann sah Domingo die Spitzen aufschießender Flammen und hörte erste Schreie, jene, die in sein Gehirn einwachsen würden wie stecken gebliebene Geschosse.
    Das Weitere dann ging erstaunlich schnell – möglicherweise hatte man besonders viel Stroh zum Holz gepackt, was als Akt der Gnade zu verstehen ist; die Vollstrecker waren ja keine Unmenschen. Die Schreie des Brennenden wurden lauter und klangen bald nicht mehr wie diejenigen eines Menschen, sondern wie aus eines Vogels Schnabel oder von einem Gespenst.
    »O mein Gott«, rief jemand in der ersten Reihe am Fenster. Der König war es nicht, nein, er war routiniert und rührte sich nicht, doch Entsetzen breitete sich dennoch aus (draußen und drinnen). Escarlati nahm zum ersten Mal den Geruch wahr, mit den Schreien der Zweite im dreifachen Bunde des Grauens – die Zutaten für schlaflose Nächte voller Schrecken waren bald komplett. Er geriet außer sich, erhob sich von seinem Sessel, um etwas zu sehen …
    Zwar konnte er dennoch nichts entdecken, doch war dies das dritte der Übel gewesen und seine ganz persönliche Schuld: Die Tatsache, dass er seinen elenden Hintern gehoben hatte,

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