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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Unmoral der Ökonomie ist die schwerste Umweltbelastung; das Neue Testament bleibt das revolutionärste Buch, das wir besitzen.
    Von Weizsäcker hat 1985 den Vorschlag für ein »Konzil für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« in das internationale ökumenische Gespräch eingebracht. Ich war geradezu beglückt, als ich ihn beim Berliner Kirchentag 1987 auf einem Empfang traf und er mir vorschlug, in einen Nebenraum zu gehen, wo man sich ungestört unterhalten könne. Keine allzu lange Begegnung, aber ein kurzes festes Ankern in jener Welt geistigen Austausches, die mir beizeiten zum Lebenselixier geworden ist.
    Es mag seltsam anmuten, dass ich als Christ und Gegner des rigiden SED-Sozialismus stets auf der Suche nach wahrhaft marxistischen Gesprächspartnern war. Aber das lag im Charakter meiner Neugier, die ihre Kraft mit Argumenten beweisen wollte, nicht mit bloßer, feindbildlicher Abkehr. Ich wollte mit Gegnern streiten, ja vielleicht war es ein missionarischer Zug. Mich trieb alles hin zum schmalen Grat, wo auch die Dinge auf den Punkt kommen müssen, um zu bestehen. Ich selber fürchtete keine Frage, und wenn die DDR-Ideologen ihre Macht stets damit zu beweisen meinten, dass sie den geistigen Streit kalt und brüsk verweigerten, offenbarte das nur ihr Elend. Im Sozialismus der Kaderparteien ging es vielen Leuten gut, dies war der vermeintliche Sieg der Arbeiterklasse: Die Armut war vom Magen der vielen in den Kopf der Funktionäre gestiegen.
    Aber es gab undogmatische linke Denker, und sie kamen nicht zufällig aus der Tschechoslowakei. So traf ich 1966 in Berlin bei einer kirchlichen Ost-West-Begegnung auf Milan Machovec, den ich – der Mut des unbedarften Studenten – nach Halle zu einem Vortrag einlud. Er kam tatsächlich undsprach in der Stadtmission vor 300 Zuhörern (damals eine unvorstellbare Menge von Menschen, die sich trauten, in eine öffentliche Veranstaltung mit einem Prager Reformmarxisten zu gehen) über »Bergpredigt und Marxismus«. Genau ein Jahr nach unserer Begegnung begann mit der – von Machovec prophezeiten – Abwahl des Prager Machthabers Nowotny und der Wahl Alexander Dubčeks zum KP-Vorsitzenden der »Prager Frühling«.
    Der tschechoslowakische Kreis schloss sich mir gewissermaßen, als ich mich an einem langen Abend 1993 mit dem jahrhunderterfahrenen Kommunisten Eduard Goldstücker im Goethe-Institut in Prag unterhalten und 1996 auf der Prager Burg für die »Süddeutsche Zeitung« ein Gespräch mit Präsident Václav Havel führen konnte. Noch im September 1987 hatte ich beim Olof-Palme-Friedensmarsch, nach einer Predigt in einer Prager Kirche, die völlig desillusionierten, ja hoffnungslosen Tschechen erlebt, die in Havel dann im November 1989 ihre hoffnungstiftende Symbolfigur fanden. So legt die Geschichte immer wieder ihre verwirrenden, verunsichernden Spuren, und plötzlich geschieht das Unverhoffte, Wunderbare. Klar sehen und doch hoffen!
    1986 lernte ich in Budapest Arpad Göncz durch Vermittlung seiner Tochter Ingka kennen. Der promovierte Jurist und Agrarwissenschaftler war nach der Revolution 1956 zu lebenslanger Haft verurteilt worden, nach acht Jahren Zuchthaus freigekommen und dann als freischaffender Übersetzer und Schriftsteller tätig gewesen. Sein Roman »Der Sandalenträger«, eine Parabel über die Verurteilung und Verbrennung des Meister Nikolaus, eines Waldensers, im frühen 15. Jahrhundert, erschien 1987 in der DDR. Von 1990 bis 2000 sollte Göncz ungarischer Präsident werden. Ebenfalls zu lieben Freunden wurden mir nach der Maueröffnung die beiden aus der Widerstandsbewegung kommenden tschechischen Botschafterin Deutschland Jiří Gruša und František Černý. In der langjährigen Gesprächsreihe »Lebenswege« der Evangelischen Akademie in Wittenberg hatte ich sie beide zu Gast – ebenso Adam Michnik und György Konrad, dessen in der DDR verbotene Bücher über »Antipolitik« ich früher geradezu verschlungen hatte.
    Was in diesen Zeilen wie protokollarische, gar eitle Aufzählung klingen mag: Es folgt schlichtweg meinem anhaltend dankbaren Staunen darüber, was mir an Begegnungen beschieden war, welche Bereicherung ich, ein bemühter Provinzmensch vom Elbufer, erfahren durfte. Martin Walser schrieb einen Text über Boris Becker und spricht darin von seiner »Neigung zur Verehrung«. Ich gestehe diese Neigung ebenfalls. Bei Boris Becker hielte sie sich garantiert in Grenzen, aber ich halte Teilhabe an den Schwingungen des

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