Klar sehen und doch hoffen
gäbe kein Glück! Das Glück, das ist immer der Augenblick. Er lässt sich nicht festhalten. »Unsere Tage ziehen dahin wie ein Strom«, heißt es im Psalm 90. Meine Tagesind gerade an einer Stromschnelle angekommen. Ich kann besser in die Zeile einstimmen: »Es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« (Psalm 90,10) Das Leben mag schnell dahinfahren – ich fahre langsamer, kaue bedächtiger, höre genauer, sehe mehr denn je. Und: Ich bin ganz unruhig und noch ungeduldiger als früher! Dieser Tag – jede Stunde, jeder Atemzug – zählt. Bald einmal werde ich »Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen« (Ingeborg Bachmann). Und ich weiß mich aufgehoben, auch wenn ich in die Grube fahre. Ich habe doch so viel Grund zum Danken und hoffe auf einen gnädigen Tod. Jetzt aber hole ich eine Flasche pfälzischen Weißwein aus dem Keller. Die Trauben hatte ich gelesen – mit Freunden, die kommen werden, wenn ich gehe.
Mit Johannes Rau und meinen Enkeln zum 60. Geburtstag 2004
ICH BIN LEBEN MITTEN UNTER LEBEN
Im Sommer 2011 sitze ich im Gutshaus in Liddow auf Rügen, weitab von allem, schweigend, allein und mit allem verwoben. Gleichmäßiges, starkes, ein fast stumpfes Rauschen. Die riesig wirkende Pappelgruppe wird von Windböen geschüttelt. Ein Geräusch, als sei da ein Ton auf dem Weg von einer Unendlichkeit zu einer anderen. Rechts von den hohen Bäumen eine alte Lindenallee. Geducktes Holz, dem Himmel nicht so nah wie die Pappeln. Sie trägt mit Stille zur Landschaft bei – der Wind hat keine Lust heute, so tief durch Blattkronen zu fliegen. Der Himmel spielt mit seinen Wolken. Vorhang zu, Vorhang auf. Dazu Getschilpe, Getschilpe. Schwalben mir direkt zu Kopfe, noch und noch. Im Nest, im dicken Knöterich, versorgt ein Bachstelzenpaar seine Jungen. Mich aufgeregt beobachtend, eilig, wahrlich flatterhaft.
Ich sitze still im Garten, wohl eine Stunde lang. Nichts als da sein. Da sein als ein beinahe Nichts. Der Natur bin ich egal – und fühle so, dass ich ihr Teil bin. Warum aber haben die Vögel kein Vertrauen zu mir? Ich tu ihnen doch nichts. Der Himmel ist frei von Raubvögeln. Ich sehe keinen Habicht. Und über den Boden schleicht keine Katze. Ein Vögelchen ist raus aus dem Nest und hält sich mühsam auf dem Mauerfirst, auf einem schrägen Dachstein. Ist wohl zu nahe bei mir, bekommt daher nichts von der ängstlichen Mutter. Rückt weiter heran. Rutscht, fällt herunter, liegt im Gras zwischen den Malven. Ich nehme es vorsichtig in die Hand. Es strampelt aufgeregt. Es fasst sich so zart an. Ich setze es wieder auf den First. Nun bewegt es sich in die richtige Richtung – unter die schützend üppigen Knöterichblätter. Dem Nest zu. Dann plötzlich fliegt der kleine Vogel. Landet auf dem Zinkfensterbrett des Hauses, wundert sich wohl, wie glatt und warm das Blech ist. Kriecht in eine Fensterecke. Ichnehme das Tier, setze es wieder hoch. Erneut bleibt die Vogelmutter auf Distanz. Sie geht aber auch nicht ins Nest – will mir wohl nicht zeigen, wo es ist. Keiner soll genau sehen, wohin sie die Nahrung im Schnabel bringt. Am nächsten Morgen die gleiche Szene. Die Vogelmutter kommt mir nicht zu nahe. Sie schützt sich, um ihr Nest zu schützen. Wenn ihr etwas Böses geschieht, verhungern die Kleinen. Also muss sie leben bleiben. Und das heißt, vorsichtig sein.
Am nächsten Morgen ist »mein« Vögelchen nicht mehr da. Konnte es nun fliegen oder hat es die Eule heute Nacht gefunden? Die will auch leben. Alles will leben, und eins nährt sich vom anderen. Sorge und Glück. Verzweiflung und Lebensfreude. Immer ist ein Wesen in Sorge um die Kleinen, auf dass sie groß werden, um wieder Kleine zu haben, für die wiederum sie sorgen können.
Gut verstehe ich, was Albert Schweitzer meinte, als er sagte: »Ich bin Leben, das leben will mitten unter Leben, das leben will.« Das will ich auch. Aber ich bin auch Leben mitten unter Leben, das Angst hat vor denen, die von mir leben wollen und also gegen mich leben. Bin also auch Leben mitten unter Leben, das Angst hat. Liebe und Angst. Liebe als Leben gegen die Angst, die Angst als Motor für ein Leben – um Angst zu überwinden – in Liebe. Klar sehen, dass Leben kostet. Und doch hoffen, dass der Preis niemals höher ist, als Liebe geben kann. Ist so Frieden, dann gibt Liebe wohl mehr, als man hoffen kann.
»Wir erweisen uns als Diener Gottes … in Freundlichkeit, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit
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