Klar sehen und doch hoffen
Miteinander-im-Gespräch-Seins für ein großes Geschenk. Schöne Momente, wenn du unverhofft eine Hand drückst, die jene Bücher schrieb, aus denen du in umflorter Zeit gewissermaßen Sauerstoff fürs freie Atmen sogst. Großer Augenblick, wenn du plötzlich Worte wechselst mit Menschen, die doch schon immer zu dir sprachen in deiner Einsamkeit oder Ratlosigkeit oder Sinnbedürftigkeit.
Meine Lust am Erfassen jener Welt des so vielfach Gedachten, Geschauten, Geschriebenen, immer in Verbindung mit dem lebendigen Dialog über das Unerledigte – diese Lust brachte mich beim Theologiestudium ständig an den Rand der Enttäuschung. Akademismus. Trockenschwimmen. Buchstabengeistigkeit. Historismus. Ich kompensierte diese Tristesse durch frühe, sehr aktive Mitarbeit in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG). Dort lernte ich Demokratie kennen, üben, schätzen – aber auch erleiden, wenn just diese demokratische Prinzipien lehrten, auch verquere Ansichten und unliebsame Mehrheiten zu verkraften. Hier trafich auf die Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler und Johannes Hamel, die in DDR-Gefängnissen nicht gebrochen werden konnten und die uns vorlebten, was ein freier, unbeugsamer Geist gegen SED-Geistlosigkeit ist.
Wenn man solcher Unabhängigkeitscourage begegnet, straffen sich die eigenen Lebensnerven, und die Schritte werden fester und ausgreifender. Im Jahre 1969 hielt ich in der Studentengemeinde, als nunmehriger Konviktsinspektor, einen Vortrag zum Thema »Nationalsozialismus und Kommunismus«. Darin verglich ich beide Regime und fand zahlreiche Strukturparallelen. Der Mitstudent Christian Gehlsen beschwerte sich über mich beim damaligen Propst. Er hielt meine Ausführungen für antikommunistisches, also gefährlich-unverantwortliches Gedankengut. Aber damit war er bei Walter Münker an der falschen Adresse. Nach nunmehr vierzig Jahren meine Aufzeichnungen von damals lesend, wundere ich mich, dass der Vorgang damals ohne weitere Folgen geblieben ist. Der Systemvergleich war das Tabu schlechthin, und dass alles ruhig blieb, belegte nur eines der gefährlichsten Instrumente der DDR: Unberechenbarkeit des Zugriffs, Willkür des Verbots. Hetzjagd im Zufallsgenerator.
Im Studium versuchte ich mich auf jene Fragen zu konzentrieren, die mir existenziell wichtig waren. So hatte ich mir im Proseminar der Kirchengeschichte Luthers Reformschrift »An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« ausgesucht. Es handelte sich um die inhaltlich umfangreichste Aufgabe. Aber mich interessierte das Thema, und so wagte ich es und stöhnte, quälte mich mit – rückblickend gesagt – mäßigem Erfolg. Getragen hatte mich die Begeisterung für den einfachen Mönch Luther, der mit dem kühnen Mut des Einzelnen »gegen alle« auftrat. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich mich fast 20 Jahre von diesem Wittenberger Reformator entfernen würde, denn: Ichbekam es lange Zeit vornehmlich mit Lutheranern und deren Orthodoxie zu tun und musste erschrocken erkennen, wie stark gerade die lutherischen Kirchen obrigkeitshörig gewesen waren, bis hin zum Gehorsam gegenüber Hitler. Und die Thüringische Lutherische Kirche war »von oben her« nicht nur rot, sie verschwieg auch ihre ganz spezielle braune Vergangenheit.
Im Neutestamentlichen Seminar legte ich eine Arbeit über »Paulus auf dem Areopag« (Apostelgeschichte 17) vor und suchte erneut den Dialog mit der Philosophie, mit anderen Religionen und Kulturen. Warum die Theologie sich so wenig der Literatur zuwandte, konnte ich nie verstehen und las selber mit wahrlich heißem Bemühen Lessing und Goethe, Dante und Shakespeare, Frisch und Brecht. Auch unter theologischen Gesichtspunkten. Wenn man Gott aus der Kunst herausnehme, so der Bildhauer Alfred Hrdlicka, breche deren Grundgebäude zusammen. Kunst ist undenkbar ohne das Konfliktfeld von Lebensfrist und Ewigkeit. Weil das wahre, große Skandalon der Existenz darin besteht, dass der Mensch mit der Geburt schuldig wird und sterben muss, hat Kunst im Grunde keinen anderen Anlass, keinen anderen Tiefengrund, und genau diese Frage schlägt den Bogen zum Zuspruch christlicher Theologie.
Im 2. Examen suchte ich mir deshalb das Thema »Die moderne Poesie und die Sprache der Verkündigung« aus. Die Predigt zum 2. Examen beschäftigte sich mit dem »Menschen im Widerspruch« von Wollen und Tun – nach Römerbrief Kapitel 7, worin Paulus starke anthropologische Anleihen bei Plato nimmt. Die
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