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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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ihm diese Härte die Hoffnung nicht rauben kann. Sola gratia – allein aus Gnade, die nicht unterwürfig macht, sondern aufrichtet. Dies ist der radikalste religiöse Widerspruch gegen einen Zynismus, der sich aus der Realität heraushält und sich über sie stellt.
    Es geht mir, gewissermaßen berufsbedingt, immer wieder um Luther und mit ihm darum, Dinge beim Namen zu nennen. Wer sich für Minderheiten, Ausgegrenzte, Flüchtlinge einsetzt, darf nicht verschweigen, dass z. B. nicht alle Zugewanderten friedlich sind. Wer aber gewalttätige Kurden gewalttätig nennt, rechtfertigt damit noch lange nicht die Unterdrückung der Kurden durch die Türken. Wer Ausländerkriminalität benennt, ist nicht automatisch ausländerfeindlich. Wer offen den Verdacht äußert, »Hartz IV« könne auch als Hängematte missbraucht werden, diskriminiert damit nicht alle Arbeitslosen. Und wer die Enttäuschung alterKommunisten über die aus der Geschichte gejagte DDR versteht, ist deshalb weder ein Nostalgiker, noch verhöhnt er Opfer der SED-Diktatur. Worte wie Pflicht und Gehorsam, Bescheidenheit und Ordnung, Heimatliebe und Nationalstolz können und müssen wieder in ihr Recht gesetzt werden. In ihnen stecken Werte, ohne die wir nicht gemeinschaftlich leben können. Daher dürfen wir nicht auf sie verzichten. Aber es sollte nicht verschwiegen werden, für welchen Missbrauch, für welches Unrecht diese Begriffe herhalten mussten.
    Klar sehen, was ist. Schönfärber und Schönredner hat es immer gegeben. Davon zeugt auch der Konflikt zwischen dem Propheten Jeremia und den »falschen Propheten«. Diese falschen berieten die Könige und legten ihnen alles mundgerecht vor, damit sie nicht in Ungnade fielen. Der wahre Prophet aber ist einer, in dessen Belieben es nicht gestellt ist, was er sagt. Er folgt der Wahrheit, die er auf dem Herzen hat und die ihm auf der Zunge brennt – wie Jeremia, der Unglücklichste und Mutigste unter den Propheten. »Denn sie gieren doch alle, groß und klein, nach unrechtem Gewinn.« Über das störrische Volk urteilt er: »Sie haben ein Gesicht, härter als ein Fels.«
    Propheten werden verdächtigt, Schwarzseher, Agenten des Feindes, Wichtigtuer, unbelehrbare Volksverächter und Staatsfeinde zu sein. Sie haben mit Gefühl- und Rechtlosigkeit zu rechnen, wenn sie auf das schon sichtbare und das noch drohende Unheil hinweisen. Sie blicken nicht rückversichernd auf die Oberen und auch nicht auf die Volksstimmung. Sie glauben an ihr Gesetz: Es gibt keine Hoffnung ohne Wahrheit, ohne Einsicht, ohne Umkehr. Sie sehen der Wirkungslosigkeit ihrer Anstrengungen ins Auge und bleiben dennoch im Mühen; eine Resthoffnung auf Wandel behalten sie. Deshalb das wiederkehrende Bild von der Nachlese, wie am Weinstock.
    Natürlich leidet der Prophet unter seinem Auftrag, dieWirklichkeit ohne Rücksicht aufzudecken. Wahrheit tut weh, auch dem, der sie sagt. Dem Volk sowieso. Das gemeine Volk will hören, dass alles gut wird, auch wenn dies gelogen wäre. Gutredner werden gut bezahlt und gern gehört. Ein Prophet steht daher als Einzelner immer gegen die vielen.
    »Bessert euer Leben und euer Tun, so will ICH bei euch wohnen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte.« (Jeremia 7,3 f.) Geistesgeschichtlich gesehen, ist die Philosophie der Propheten ein Schritt aus der streng vorgegebenen Norm in die Freiheit des persönlichen Handelns. Es geht nicht bloß um Normbefolgung; es geht um Wahrnehmen von Verantwortung – die Propheten vollziehen den Schritt von der Moral zur Ethik, zur eigenen, freien, verantwortlichen Tat. Hier waltet nicht mehr das Schicksal, hier wird Verantwortung eingeklagt. Für jeden.
    Die Bibel half mir immer beim Erden der Sehnsüchte, der Menschenrechts- und Friedensutopien. Sie half mir, ein realistisches, also ein skeptisches Menschenbild zu behalten. An Propheten, nicht an Herrschern habe ich mein Denken und Tun geschult, habe mich an ihrem Anspruch gerieben, spürte und spüre immer wieder den Abstand zu ihrer Klarheit. Ihr Leiden ließ ich an mich heran, ihre Kraft beneidete ich. Sie haben mir geholfen, meine nunmehr dreiundvierzig Jahre als Pfarrer ohne Schönfärberei zu betrachten, ohne Selbstblendung, also nicht nur das Feuer, sondern auch die Asche der Jahre zu sehen. Den Blick vom Spektrum der Erfahrungen, auch von Enttäuschungen nicht feige abzuwenden – aber dabei das Hoffen nicht aufzugeben. Wenn ich mich auf das Lebensskript von Propheten berufe, dann nicht anmaßend

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