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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Stimmung herrschte bei einem Konzert mit Bettina Wegener oder Barbara Thalheim, bei einer Lesung von Reiner Kunze oder Christa Wolf? Wie gespannt, wie wach, wie erregt und sinnbegierig sahen wir »Lenins Tod« von Volker Braun am BerlinerEnsemble oder den »Drachen« von Jewgeni Schwarz am Deutschen Theater. Im Hallenser Kino »Freundschaft« sah ich 1966 in der ersten Reihe schenkelklatschend Frank Beyers DEFA-Film »Spur der Steine«. Für Stunden lebte ich – zusammen mit meinem Studienfreund Siegfried Neher – in einer anderen DDR, einer DDR mit ruppigen, wirklichen Menschen. Tags darauf wurde der Film verboten. (Wer übrigens erwähnt noch, dass das Drehbuch als Vorlage den Roman des parteitreuen Kommunisten Erik Neutsch hatte?!) Die beklemmenden Bilder aus Güstrow vom Dezember 1981, Helmut Schmidt bei Erich Honecker, gehören ebenso zur DDR wie dann der trotzig-hoffnungsvolle, mitten aus dem Volk kommende Satz »WIR sind das Volk! WIR sind das Volk!« vom Oktober 1989. Wer nicht dabei war, betont den Satz meist falsch – weil er nicht weiß, in welche Geschichte und in welche Atmosphäre hinein so selbstermutigend gerufen wurde: Es war der Ruf des Volkes nach sich selbst. Das Volk sagte endlich »Ich«, als es »Wir« rief. Dann kam der Ruf nach der D-Mark. Nun haben wir nicht »den Salat«, aber eine tiefe Verunsicherung durch einen krisengeschüttelten Euro.
    Immer wieder kommt, aus westlichem Munde, gegen uns Ost-Deutsche forsches Befragen auf. Das prallt gegen den Betroffenen wie eine Ohrfeige: Wie konntet ihr nur leben in diesem System? Warum seid ihr in der DDR geblieben? Weshalb habt ihr nicht öffentlich widersprochen, auf der Straße demonstriert, den Widerstand organisiert, euch nicht allen politischen Organisationen des totalitären Staates entzogen? Das sind Fragen, aber ihr Gestus ist oft genug schon die Antwort. Erkundigung gerät flugs zum Verhör, das aus Ahnungslosigkeit der Nachgeborenen, aus kaltnüchternem Willen zum Unverständnis oder aus moralgetränkter Naivität kommt.
    Der allgemeinen, selbstgewissen Unschuld gegenüber geheneinem die Fragen ganz schnell aus. Natürlich auch die unbequemen Fragen, die man an sich selber zu richten hat. Das Fragen nach dem eigenen Versagen darf nicht als Kampf gesehen werden, den man, die Frage ablehnend, gegen andere führen muss. Diese Frage ist eine Form der Selbstbegegnung, die Freiheit, die man sich gegen sich selbst nehmen muss.
    Also den Mut finden, als Einzelner die totale Kenntlichkeit zu wagen, ob in einer Elternversammlung, einer Wahlversammlung, einer Parteiversammlung, einer Schulklasse, einem Lehrerkollektiv oder bei einem Jugendweihefestakt – wie unüberwindlich waren viele innere Hürden längst geworden. Der Schritt von der Wut zum Mut ist ein Riesenschritt, wenn man erst einmal erfolgreich und zäh verzwergt wurde.
    Anpassung wurde angesichts der staatlichen Pressions-Instrumente zum »Kern der Gesundheit« (Christa Wolf in ihrer 1968 erschienenen Erzählung »Nachdenken über Christa T.«). So kann ich gut verstehen, dass eine 33-jährige Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften, gebunden an Beruf und Entwicklungsträume, nicht öffentlich gegen die Berichterstattung über Tschernobyl protestierte oder sich nicht beteiligte an den Debatten, die in kirchlichen oder dissidentischen Kreisen über die Energiegewinnung in der DDR stattfanden, über die Devastierung der Landschaften durch Riesenbraunkohlentagebaugebiete oder über den Plan, in Arneburg ein großes Atomkraftwerk nach dem Tschernobyl-Typ zu bauen. Wer schwieg, schwieg nicht einzig aus charakterlicher Feigheit. Man hatte etwas zu verlieren, das ein eigenes Gewicht besaß im Abwägen dessen, was man tat oder unterließ.
    Ich kann mir das alles gut erklären, weiß ich doch um die Atmosphäre und um die Verletzbarkeit von Menschen, die in staatlichen Institutionen arbeiteten. Nur sollte sich niemand dazu verleiten lassen, heute, in der neuen Freiheit, den damalsunterbliebenen Mut nachträglich zu steigern. Es geht um Redlichkeit damals und um Redlichkeit heute. Mir ist zum Beispiel nicht bekannt, dass der Wanderprediger der Freiheit, der jetzt Bundespräsident ist, sich je über seinen unmittelbaren Bereich in Rostock hinaus an den Aktivitäten dissidentischer Gruppen beteiligt hätte. Das erwähne ich nicht im Ton des Vorwurfs. Nur fände ich es redlicher, weniger verbal Scharfrichterliches zu äußern und mehr die Situation einer Zeit zu erklären, in der man nicht

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