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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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gehe in Halle von den Franckeschen Stiftungen zum Löwen-Gebäude der Martin-Luther-Universität und weiter bis zum Bahnhof. Auch dieser Weg kommt mir ziemlich lang vor. Aber das habe ich früher nicht so empfunden. Welch ein zunehmender Verfall der Häuser damals, welch ein Wunder des Wiederaufbaus, welch Entsetzen über das Nebeneinander von Verrottendem und Glitzerndem heute.
    Gleich neben dem Bahnhof am Thälmannplatz hat das mächtige Arbeiterfäuste-Monument aus Beton gestanden. Hier im Straßentunnel haben wir 1968 gegen die Verfassung unser »NEIN, NEIN, NEIN« gemalt. Und hier, schräg gegenüber von Grüns Weinstuben, waren die Räume der Evangelischen Studentengemeinde gewesen, in denen ich das größte geistige Vergnügen hatte: die Vorträge von Carl Friedrich von Weizsäcker, wenn er zu den Jahressitzungen der Leopoldina gekommen war.
    Ich schreite in Merseburg vom Neumarkt zum Pfarrhaus am Rande der Stadt, gehe weiter zum katholischen Kindergarten und wundere mich, wie lang der Weg ist, den ich Morgen für Morgen mit unserer Tochter Uta und unserem SohnMartin zurücklegte, den ich zur Kinderfrau brachte. Auf seinem Gesicht mischten sich Tränen und Rotz, wenn er flehentlich bat, dass ich ihn wieder mitnähme oder bei ihm bliebe.
    Ich fahre mit meinem Rad auf den Wittenberger Lutherhof und höre nach 29 Jahren den Nachklang des Schmiedehammers von Stephan Nau, das Lied »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott« und das anfeuernde Hoi-Hoi-Hoi der vielen Hundert begeisterten Jugendlichen.
    Ich laufe auf dem schmalen, kaum noch sichtbaren Streifen aus Pflastersteinen mitten durch Berlin. Hier stand einmal »der Schutzwall«. 28 lange Jahre.
    Die Sandkuhle, in der wir immer gebadet haben, suche ich in den weiten Werbener Elbauen. Sie ist versandet wie viele andere Weiher auch, langwirkende Folge der Elbvertiefung.
    Ich schreite den Weg ab von unserer Werbener Kirche bis zum Friedhof – erinnere mich an den Zug hinter dem Sarg der Mutter 1971, hinter dem Sarg des Vaters 1995 und gieße die Rosen an des Bruders Grab.
    Ich steige am 15. März 2012 auf den Turm unserer gotischen Kirche. Hier bin ich vor genau 55 Jahren heruntergefallen. Und lebe. Unfassbar noch immer, auch für meine Kinder und Enkel. Leben ist immer auch Wunder.

WO ICH GROSSGEWORDEN BIN
WAS EIN KIND GESAGT BEKOMMT
    Ja, eine ganze Schoor Lämmer, bemerkte eine alte Frau in Werben an der Elbe, als mein Vater sich mit seinem Namen in der neuen Pfarrstelle in Werben vorstellte. (Im Altmärker-Platt bezeichnet man eine Schaar als Schoor.)
    Es war rückblickend schön und bereichernd, wenn auch nicht ganz leicht, als ältester Sohn mit sechs Geschwistern aufzuwachsen. Keines möchte ich missen, eins muss ich missen; ein Bruder starb 1957 an Kinderlähmung.
    Mich hat mein Vater früh rangenommen, ob beim Graben und Jäten, beim Ausfahren der Fäkalien auf unser Spargelbeet im Juni. Zweimal wöchentlich mähte ich vom Frühsommer bis zum Herbst morgens um halb fünf mit der Sense weitab vom Haus Gras und schob das Futter für unsere Ziegen, Gänse und Enten mit dem Rad nach Hause. Ich schaufelte die angelieferten Kohlen in den Schuppen und stellte, solange geheizt wurde, täglich für fünf Kachelöfen die Briketts und das gehackte Holz bereit. Wie kalt und wie lang erschienen mir damals die Winter!
    Lustvolles Ernten von Kirschen, heimliches Stibitzen im Erdbeerbeet, Staunen beim Ausschleudern der Bienenwaben, die tägliche Sorge um meine Tauben … Als Pfarrerssohn stand ich immer unter besonderer Beachtung. Ein Pfarrerskind bekommt gesagt, was es schon um des Vaters willen nicht machen darf – und wenn schon, dann mit schlechtem Gewissen. Beim Obstklauen, dem Mundraub, konnten die andern einfach genießen. Ich nicht.
    Frühe politische Neugier und viel Rumspinnen führten zu Fluchtfantasien des Achtjährigen und des Dreizehnjährigen in den Westen. In der Elbe schwamm ich mich frei, was bei uns hieß, dass man einmal ans andere Ufer schwamm und wieder zurück. (Heute kann ich mir schwer vorstellen, meine vierzehnjährige Enkelin quer durch den Strom schwimmen zu lassen.) Ich habe wohl kaum einen jugendlichen Blödsinn ausgelassen, bis mir nach meinem Sturz vom Kirchturm im März 1957 allmählich bewusst wurde: Leben ist unverdientes Geschenk.
    Seit Kindheitstagen hörte ich das »Echo des Tages«, und mein Vater erklärte mir, was ich nicht verstand. Ich las und las und las: Erich Maria Remarque und Wolfgang Leonhard, Schiller, Zweig und

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