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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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anderer Trost und Freude. Aber Gerhardt macht mir kein schlechtes Gewissen, pflanzt mir kein defizitäres Selbstbewusstsein ein, sondern besingt das Loskommen von »schweren Banden«, das Herauskommen aus dem Tal der Leiden an Leib und Seele. Ich danke, staune über meine Möglichkeiten, die nicht versiegen, und mit einem »grünenden Herzen« lern ich zu handeln und darauf zu vertrauen, dass das Reich kommt, »da Fried und Freude lacht«. Diese Wortfigur vom »Reich, da Fried und Freude lacht« hat mir vor über vierzig Jahren mein verehrter Bischof Krusche auf der Ordinationsrüste erschlossen. Und bis in seine letzten Lebenswochen kam er immer wieder auf diese eine Zeile zurück.
    Wer nicht bedenkt, dass Paul Gerhardt das Lied »Wie sollich dich empfangen« am Ende des verheerenden Dreißigjährigen Krieges geschrieben hat, der wird die grandiose, erschütternde Vertrauenskraft dieser Verse kaum erfassen können.
    »Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt als das geliebte Lieben, damit du alle Welt in ihren tausend Plagen und großen Jammerlast, die kein Mund kann aussagen, so fest umfangen hast.
    Das schreib dir in dein Herze, du hochbetrübtes Heer, bei denen Gram und Schmerze sich häuft, je mehr und mehr; seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür; der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier.«
    Man möge sich das vorstellen: Da stehen Menschen dreißig Jahre in Blut und Schmutz eines Krieges, vor Augen jene Wüstungen, die ihre Dörfer waren; diese Menschen haben in die Abgründe des Menschlichen hineinsehen müssen, sie werden in ihrer Not und in ihrem Schmerz nach Gott geschrien haben, sie werden schier besinnungslos vor Not und Aussichtslosigkeit gewesen sein, aber mit Paul Gerhardt sollten und konnten sie innig singen: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.« (Mein Vater hatte mich wieder und wieder auf »Wüstungen« in der Altmark aufmerksam gemacht, Relikte des Dreißigjährigen Krieges.)
    Freilich bleibt mir Paul Gerhardts durchgängiges Himmelslob, seine Sehnsucht »nach oben« in ihrer unablässig beschworenen Dringlichkeit verschlossen. Dazu lebe ich doch zu gern und habe das unweigerliche Loslassen erst noch vor mir (hoffend, es sei zur gegebenen Stunde ein getrostes, auch wenn es denn, gemäß Fügung, ein kreatürlich schweres, schmerzvolles sein sollte). Aber: Loblieder sind Texte gegen die Verzweiflung, und beständig wächst Verzweiflung aus dem Geschehen der Welt; groß ist also die Anfechtung, wegen einer grausamen, unwirtlichen Realität im preisenden, lobendenLied zu verstummen. Ich las als Theologiestudent das Tagebuch des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss, ich besuchte Buchenwald, Majdanek, verstört habe ich Paul Celans »Todesfuge« durchbuchstabiert – und selbstredend schrie die Frage: Wie angesichts dessen noch singen, womöglich unbeschwert: »Lobet den Herren, alle, die ihn ehren; lasst uns mit Freuden seinem Namen singen …« Der Schrei dieser Frage ist nach Tschernobyl und Fukushima nicht leiser geworden.
    Und dennoch: Singen! Singen ist eine Tat der Lebenden, jede Weise ist eine Weise des Gesprächs mit den Toten, die den größten Chor der Menschheit bilden. Das zitierte Lied Gerhardts ist ein einziges Bitt- und Danklied für diejenigen, die überlebt hatten.
    »Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Herren.
    Dass Feuerflammen uns nicht allzusammen mit unsern Häusern unversehens gefressen, das macht’s, dass wir in seinem Schoß gesessen. Lobet den Herren.«
    Das Geheimnis dieser Lieder ist die direkte Anrede. Stets steckt darin ein Ich, ein Du oder ein Wir. Es sind Ermunterungen zu Bescheidung und Bescheidenheit, diese Ermunterungen richten auch auf: just im Wissen um die eigene Begrenztheit doch aktiv zu werden für eine friedliche Welt – und sich im kleinen Beitrag getragen zu wissen von größerer Kraft. So wurde mir »Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun und Werk in deinem Willen ruhn« zum wichtigsten Tat-Lied. Weil es Mut macht, ganz aus Vertrauen zu leben. So zu leben bedeutet für mich: fromm zu leben.
    Etwas Unergründbares kommt in diesen Liedern auf mich zu, es kam schon früh, es blieb, es erneuerte sich, es knüpft sich in meiner Erinnerung an sehr verschiedene Situationenund Orte. Erlebnisse, geteilt in Glück und Leid, aber alle verbunden durch die

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