Klar sehen und doch hoffen
September 2003, genau zwanzig Jahre danach, hatten wir eine »dressierte« Friedenstaube über Brot, Wein und Oliven gesetzt. Sie blieb sitzen und faszinierte die Gemeinde – stärker als alle unsere Worte.
Auf die Taube des Frieden warten, in Hoffnung, trotz aller dagegensprechender Erfahrungen – das bleibt mir Lebenshaltung.
VON MEINEM VOLK ERSCHÜTTERT – MIT MEINEM VOLK ERGRIFFEN
Wenn ich mir vergegenwärtige, welche drei Ereignisse mich in meinem Volk erschüttert und welche drei mich ergriffen haben, dann nenne ich zuerst den 13. August 1961. Damals wurde die Unvereinbarkeit der beiden Systeme in Beton gegossen. Ich war der roten Erziehungsdiktatur ausgeliefert, die mit dieser Maßnahme im internationalen Klassenkampf den Frieden zu sichern behauptete. Sollte es jetzt in Deutschland wie in Korea zugehen?
In Prag habe ich mich 1968 verlobt. Am 19. August kehrten wir zurück. Meine Gefühle fand ich in Reiner Kunzes Gedicht »rückkehr aus prag. dresden frühjahr 1968« wunderbar eingefangen: »Eine lehre liegt mir auf der zunge, doch/ zwischen den zähnen sucht der zoll«. 18
Am 21. August wurde der Traum von einer Gesellschaft, die Gerechtigkeit und Freiheit miteinander zu verknüpfen sich anschickte, mit Gewalt zerrissen. Wir DDR-Deutschen waren regierungsamtlich mit von der Partie, auch wenn, wie seit einigen Jahren bekannt ist, die NVA auf sowjetisches Geheiß nicht mit Kampftruppen im Nachbarland gewesen war. München 1938 hatten die Tschechen und Slowaken zu frisch in Erinnerung, hatten doch deutsche Invasoren ihnen genau dreißig Jahre zuvor die Freiheit genommen. Hinzu kam diese so verwechselbare graue Uniform. Die Gedanken daran waren bei ihnen noch nicht verblasst. Ulbrichts SED gehörte indes zu den Scharfmachern, und ich war Bürger dieses eingemauertenLandes. Was halfen da die Proteste und die kleinen Aktionen? Ich schämte mich für mein Land.
Mein erster Besuch in Polen führte mich 1972 mit einer Studentengruppe aus Merseburg nach Lublin. Wir wurden dort in der Katholischen Universität Lublin freundlich aufgenommen, weil man in uns auch Gegner des kommunistischen Regimes sah; da spielten die gravierenden konfessionellen Unterschiede plötzlich keine Rolle mehr. Unsere Gastgeber warteten ab, ob wir den Wunsch äußern würden, nach Majdanek zu fahren. An den erhaltenen Vergasungsbaracken las ich die Schilder in deutscher Sprache. Hier verstand ich erst Bechers Gedicht »Kinderschuhe aus Lublin«. Es beschämte mich, dass unsere Gastgeberin eine weiße Rose mitgebracht hatte und wir nichts. Ein wenig gemildert wurde meine Scham, ein Deutscher zu sein, dadurch, dass im Dezember 1970 Willy Brandt am Warschauer Ghetto auf die Knie gegangen war, um Verzeihung bittend. Nachdem ich Mitte der achtziger Jahre im Dritten Programm des Westfernsehens Claude Lanzmanns Film »Shoah« gesehen hatte, wurde mir bewusst: Selbst als nachgeborener Deutscher kann man sich nicht von dem ablösen, was wir als letztlich unbegreiflichen Kulturbruch in die europäische Geschichte eingebracht und zu verantworten haben; meine Generation und die nachfolgenden wohl nicht mehr persönlich, aber als eine »Verantwortungsgemeinschaft«, in der uns Willy Brandt im Zusammenhang mit seiner Ost-Politik sah.
Wenn ich sagen soll, wo oder wann ich mit dem Volk, dem ich zugehöre, eins war, ohne mich als Individuum aufgeben zu müssen, nenne ich drei Ereignisse, die tief in mir ruhen. An erster Stelle den 4. November 1989. Die wachen Gesichter, die aufrechte Haltung, der fröhliche politische Witz der Plakate, das aufmerksame Zuhören über mehr als drei Stunden auf dem Alexanderplatz, die Anmutung großer Zuversichtin einem Moment der Volkssolidarität. Ich war gebeten worden, dort über Solidarität und Toleranz zu sprechen. Mir wurde schließlich geradezu eingegeben, was ich dazu zu sagen hatte, so wie in den Städten und Kleinstädten des ganzen Landes in jenem Herbst viele Hundert andere erlebten, dass sie plötzlich das richtige Wort zur richtigen Zeit im richtigen Ton zu sagen vermochten.
Lesung mit Reiner Kunze im katholischen Freizeithaus in Roßbach, April 1977
Im Sommer 1995 erlebte ich die gesammelte, so fröhliche wie stille Atmosphäre vor und um den von Christo verhüllten Reichstag. Das Volk, zu Millionen aus allen Bundesländern angereist, strömte zu diesem wie vom Himmel herabgefallenen Kristall, tagelang, nächtelang. Viele lagerten vor dem Reichstag. Dieser »Kristall« entwickelte eine magische
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