Klar sehen und doch hoffen
lebensbildende, lebensbewahrende Kraft einer tiefgreifenden Poesie. Ich denke an das eiseskalte Kinderschlafzimmer 1949; an die gotische St. Johanniskirche in Werben an der Elbe, tags und nachts; ich denke an das Grab meines 1957 gestorbenen Bruders Hans-Christoph; ich denke an den Merseburger Dom, an die Mahlfeiern vor Cranachs Altar, an die Konfirmation meiner Tochter Uta in der Wittenberger Stadtkirche 1984; ich denke an die Elbwiesen sommers, und ich denke an Paul Gerhardt als den treuen Begleiter durchs jeweilige Kirchenjahr. Ein Dichter, der allem ein Verbindungsmann ist, ein Verknüpfer, der das Schicksal des Einzelnen in das Geschick des Ganzen stellt. So gut wie Lieder ins seelische Zentrum führen, darin wir uns gehalten wissen, so gut könnten wir keine Schienennetze legen oder anderswie Logistik betreiben. Protestantismus – in jener von Luther geprägten Gestalt – bleibt für mich: individuelle Aneignung der biblischen Zeugnisse, gemeinsames Nachdenken über deren Wahrheit und Tragfähigkeit, verbunden mit der naiven und nichtsdestotrotz existenziell tiefen, lebenserprobten Liederlyrik Paul Gerhardts. Samt seiner Jesus-Innigkeit, seinem Weltbezug wie seiner Weltentsagung. Gerade die Entsagung, die Scheu vor hemmungslosem Weltzugriff kann davor bewahren, dass Glaube in Fanatismus und tötende Orthodoxie oder in sozialpolitische Ideologie umschlägt.
Ich bin froh, dass unsere Eltern so viel mit uns sieben Geschwistern gesungen haben. Wie vergnüglich, von Mai zu Mai die Stimmen zu erheben: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser schönen Sommerzeit …« Singend lässt sich Leid bestehen und Freude ausdrücken. Wer das Leben innig zu lieben gelernt hat, kann doch gar nicht anders, als sich für dessen Bestand einzusetzen, dankbar für die rosige, rauschende, raue Schönheit und Vielfalt der Schöpfung.
Keine Phase meines Lebens vermag ich zu benennen, die ohne existenziellen Bezug zur Kunst stand. Als sei Paul Gerhardt ein Saatboden gewesen, in dem von der Hauptwurzel viele Wurzeln sich ausgebreitet und neue Zweige sich ins Bild gebracht hätten. Das Thema, das ich mir 1969 für meine 2. Examensarbeit wählte, hieß: »Die moderne Poesie und die christliche Verkündigung«. Dabei entdeckte ich den Schweizer Poeten und Pfarrer Kurt Marti, ohne den ich mir meinen Weg als Theologe und als Prediger künftig kaum mehr denken konnte.
Theopoesie statt nur immer Theologie! Als Marti im Oktober 1997 den Kurt-Tucholsky-Preis bekam, hielt ich die Laudatio im Deutschen Theater Berlin. »Die Weltleidenschaft Gottes« – so einer seiner Buchtitel – ist die notwendige andere Seite zu den himmlischen Sehnsüchten eines Paul Gerhardt. »Wir leben zu wenig« hatte ich die Laudatio, einen Satz Martis aufnehmend, überschrieben und gesagt: »In unsere Verzweiflung, Naturzerstörung, Verelendung, globale Ausbeutung und globalisierte Geldmacht, in unsere Ohnmachtserfahrung hinein singt Marti seine ›Klagen, Wünsche, Lieder‹, überzeugt davon, dass es diesen ›Ungrund Liebe‹ gibt.«
MEIN LEBEN MIT TAUBEN – MIT DER TAUBE NOAHS UND PICASSOS
Unser Pfarrhaus war auch ein Haus der Tiere. Ich war bereits in früher Kindheit mit der Pflege und der – im wahren Sinn des Wortes – Abschlachtung, mit Fütterung und Aufzucht betraut. Viel Zeit habe ich von meinem zehnten bis sechzehnten Lebensjahr mit Tauben verbracht. Der Taubenschlag auf dem Dachboden unseres alten Hauses in Werben glich einem Abenteuerspielplatz, ich studierte das Verhalten der Tiere,machte sie mir vertraut, musste aber, wenn die familiäre Nahrungsnot es forderte, als ihr Hüter auch ihr Henker sein. Ich kann mir heute kaum noch den Gleichmut vorstellen, mit dem ich diese Tiere hegte – und tötete.
Wer gleichnisstarke Geschichten sucht, trifft unweigerlich und immer wieder auf die Taube. Da ist die faszinierende Erzählung von Noah, in der die Taube den Zweig der Hoffnung auf das Ende der Sintflut im Schnabel trägt – Emil Nolde porträtierte sie in einem faszinierenden Holzschnitt. Die Picasso-Taube auf dem großen Wandteppich im Berliner Ensemble war für mich ab Anfang der sechziger Jahre ein beeindruckendes Schau-Erlebnis, noch ehe der Hauptvorhang sich hob. Mich hat die friedenspolitische Vermarktung der Taube, quasi als Botschaftsvogel der SED und des roten Militarismus, geärgert, immer weniger passte diese pazifistische Symbolik zur militanten Struktur der Gesellschaft, aber: Die Taube besaß stets eine weiterwirkende integre
Weitere Kostenlose Bücher