Klar sehen und doch hoffen
war.
Vieles ist auch mir schon völlig in Vergessenheit geraten. Ende 2011 dokumentierte »Radio Kultur« eine Sendung des früheren »Deutschlandsenders«, in der ich erfuhr, dass Bürgermeister zu Weihnachten 1961 Westbesucher einluden, um ihnen die angeblichen Vorzüge unserer Deutschen Demokratischen Republik zu präsentieren, sie zu bedauern, weil sie in einem kapitalistischen Land mit Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogen leben müssten, und zu animieren, im Westen bitteschön etwas über die wunderbaren Lebensbedingungen im Arbeiter-und-Bauern-Staat zu erzählen. Die Westbürger, die ihre Verwandten in der DDR besuchen konnten, gingen brav zu solchen Veranstaltungen. Schließlich wollten sie nicht die nächste Einreisegenehmigung aufs Spiel setzen. Ob es dabei zu irgendwelchen offenen politischen Diskussionen gekommen ist, weiß die Stasi allein. Ich vermute: leere Seiten. Bis zum November 1989 hatten sich die Bundesbürger diversen Gehorsamtforderungen zu unterwerfen. Sie taten es ohne Murren, schütteten uns aber ausgiebig ihr Herz über die erlittenen Qualen aus. In regelmäßigen Intervallen hatten unsere Grenzsicherungsorgane die Anweisung, freundlich zu sein. Die Wirkung solchen Wechselspiels kannten sie aus der Hundeabrichtung. Nicht vergessen sei, dass nach einem Besuch Ulbrichts bei Bischof Mitzenheim in Eisenach die Ost-Rentner zu ihren Verwandten in den Westen reisen durften. Seit dem 2. November 1964 jährlich vier Wochen westwärts. Was eine Belohnung für die staatsgeschmeidige Haltung der Thüringischen Landeskirche war, sollte zugleich ein Signal an DDR-kritische Kirchen sein: Seht! Wohlverhalten wird belohnt! Mitzenheim durfte diese Lockerung sogar als Erster bekannt machen. Unsere Rentner verhielten sich nach meinen Erfahrungen besonders brav. Sie gingen selbstverständlich zu den sogenannten Volkswahlen, wollten sie doch gern wieder eine Westreise genehmigt bekommen.Der totale Staat diszipliniert seine Untertanen. Mit Zucker – und mit Peitsche. Ich gebe zu, ich war im Konsum. Ich habe nie Ostsender gehört. Aber es gab auch gute Musik. Beethoven und Bach stehen über jeder Ideologie. Auch die Oratorienkultur konnte sich sehen und hören lassen. Bildende Kunst entzog sich den optimistisch-realistischen Vorgaben. Das Theater auf den großen und kleinen Bühnen half, das zu relativieren, was an lächerlichen wie abwürgenden Stücken alltäglich aufgeführt wurde. Mitten im so fürsorglich und vorsorglich verordneten Leben gab es Freiräume für die, die sie sich nahmen. Auch zum Auseinandertanzen. Die Koppel war größer als das von den Eingepferchten genutzte Areal. Was aber als Schutzschild nach außen ausgegeben wurde, war lebensbedrohlicher Stacheldraht nach innen. Nicht zuletzt am Schutz ist dieses Konsumexperiment zugrunde gegangen. Jetzt haben wir grenzenlose Herrschaft des Konsums – und statt Klebemarken gierfixierte Börsenspekulation. Eine »Börsensteuer« lässt bis in Ewigkeit auf sich warten.
WIE ICH WURDE, WAS ICH BIN
»ICH SINGE MIT, WENN ALLES SINGT«. PAUL GERHARDT
Wer in stillem Moment in sich hineinhorcht, weckt Geschichten, Lieder, Stimmungen, Gerüche. Schönheit oder Schrecken einer Empfindung erwachsen aus dem Vergleich mit Gelebtem. Der Vergleich schafft das Urteil: Ein Sonnenuntergang, irgendwo, rührt mich an, weil ich ihn von irgendwo anders her kenne. Gedächtnis ist unser Organ für das Unterscheidungsvermögen – wir sind festgelegt auf bestimmte Wirkungen und bewerten mit ihnen alles, was uns neu anstößt, zustößt, abstößt, vorwärts stößt. Und je mehr Jahreskreise sich um uns legen – wie ein Schutz, aber auch wie ein Ring, der unseren Atem flacher werden lässt ‒, desto stärker lichten sich jene Nebel, die sich mit den Zeiten zwischen uns und die Kindheit gesenkt und das längst Vergangene ins Unscharfe gedrängt hatten. Plötzlich, wenn wir nicht nur das Herz, sondern auch die Uhr schlagen hören, steht uns Kindheit wieder vor Augen, eine klare Kontur. Erinnern macht uns bewusst, was uns lenkte, formte, prägte. Die alten Bilder scheinen wieder auf, die verblichen geglaubten Farben leuchten, die verwehten Lieder klingen neu.
Mir steht das altmärkische Pfarrhaus in der Wischelandschaft vor Augen, ein abgelegenes Gehöft in Herzfelde, von einem kleinen wilden Park umstanden. Unvergessen die buchstäblich klirrende Kälte des Winters, im Frühjahr die langsam, aber unaufhaltsam üppig werdende Flora des Gartens, die saftig grünen
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