Klar sehen und doch hoffen
Wiesen, die von Kornblumen, Margeriten und Disteln überwucherten Feldraine und Straßengräben,das Surren der Grillen und Bienen. Lerchengesänge, hoch oben am Sommerhimmel, das Dreschgeräusch hinter unserer Scheune, und im Herbst der Duft, der vom Kartoffelkrautfeuer auf den Feldern kam. Ich war beizeiten eingebunden in den Pflichtenkreislauf, das Leben war nicht einfach nur abzuholen, sondern zu bestellen. Umliegende Natur, das war ein Arbeitsort. Und dennoch stieg aus dem Wilden, hemmungslos Blühenden auch jenes Gleichnis, das nicht die Ordnung, sondern die Unordnung sang und das Unkraut gleichsam adelte, dem doch ständig zu Leibe gerückt werden musste. Denn das Unkraut gab der Existenz die Lehre: Keiner fragt nach ihm, aber es wächst; keiner gießt es, aber es grünt; und wer es fürchtet, der fürchtet doch nur seine Beständigkeit.
Voller Geheimnisse war das Leben und voller Genüsse. Es gab die Armseligkeit der stets nur mäßig gefüllten Taschen. Es gab die Ängste, die jeder kennt, der in einer ihm feindlich und böse gesinnten politischen Welt lebt. Aber es gab viele Beglückungen, und stets standen sie in Balance – auch mit den Härten der bäuerlichen Selbstversorgung: Ich fütterte unsere Schweine, war an sie gewöhnt, sah in ihnen zuneigungswerte Lebewesen, war dann jedoch beim Schlachten dabei, rührte das Blut, verbrannte mir den Gaumen an der gierig erwarteten Wurstsuppe – im Ohr noch den dumpfen Schuss gegen das angstquiekende Tier, vor Augen noch das sprudelnde Blut, nachdem das Messer an die Kehle des Schweins gesetzt worden war. Ein Bild für jene Gleichzeitigkeit der Empfindungswelten, die uns oft genug das Schöne und das Schreckliche, das Lichte und das Dunkle, das Ansehnliche und das Hässliche, das Leichte und das Schwere als unzertrennliches Spannungspaar in die Seele senkt.
Jeden Abend stand mein Vater mit meiner Mutter, die Hände gefaltet, an den Betten von uns Geschwistern, und die Eltern sangen: »Breit aus, die Flügel beide, o Jesu, meineFreude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan es verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.« Hieß es nun »und nimm dies Küchlein ein« oder hieß es nur »nimm dein Küchlein ein«? Ich erinnere mich der Träne meines Vaters, die er bei diesem Lied vergoss, auch wenn er es schon oft gesungen hatte. Dieses Gerührtsein begleitete mich in den Schlaf, ließ mich sanft hinüberschlummern, aber ich ahnte sehr bald, dass dieses Liedes Bitte nach Flügelschutz durch höhere Gnadenmacht in der realen Welt begründet lag. Es war für uns ein harter, bisweilen bedrohlicher Alltag in der Nachkriegs-Ostzone zu bestehen. Der Glaube war nicht nur Welt, sondern wahrlich Gegenwelt, und das Singen der Eltern an den Betten der Kinder setzte gegen das Gefühl erfahrener Umklammerung durch Staat und Gesellschaft beizeiten die Umarmung. Ich wuchs auf mit dem wohligen, fröhlich stimmenden Gefühl, dass über mir die Arme ausgebreitet seien: segnend, schützend, mich einladend, ebenfalls zu umarmen, statt nur immer böse zu werden gegen die erlittene Umklammerung.
Freilich wächst beim Erinnern schnell die Gefahr, sich mählich entwickelnde Prozesse des Bewusstwerdens in eine kindliche Frühzeit zu datieren, in der man doch keineswegs so klug war, wie es sich in späterer Rekonstruktion der Dinge anhören mag. Immer wollen wir klüger gewesen sein, als wir es waren. Wir wollen beizeiten nach einer Logik des geradlinigen Weges gelebt haben. Wir erinnern uns, steigen in die Vergangenheit und eilen uns noch dort voraus, wo alles längst Geschichte ist. Darin besteht die Gefahr jeder Erinnerung. Dennoch kann ich nicht leugnen, sehr früh jene erwähnte Bedrückung des gesellschaftlichen Klimas gespürt zu haben, und ich danke meinen Eltern sehr dafür, dass sie in der Gegenwehr niemals kalt, hart, lederhäutig wurden und uns Kinder mit Liebe, statt mit Panzerungen ausgestattethaben. Liebe als beste Panzerung und als bestes Kampfmittel gegen die Macht da draußen: Waffenlosigkeit.
Das sagt sich leicht hin, aber Liebe, sosehr sie das einzig Rettende ist, bleibt stets das größte Risiko. Sie öffnet, sie macht verwundbar, sie lässt Lindenblätter in Scharen regnen auf Körper und Seele. Maxim Gorki sprach einmal von der traurigen Wahrheit im Leben der russischen »Niederen«. Sie »durften ihre Kinder um den Preis des Überlebens nicht zu sehr lieben, sondern mussten sie früh hinausstoßen ins Schmerzende, Frostige,
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