Klassentreffen (German Edition)
Schulleiter dazu sagen würde, konnte sich Meike schwer vorstellen. Er unterrichtete Mathematik und evangelische Religion – eine ähnliche Fächerkombination wie ihr Vater. Hatte er auch ähnliche Ansichten wie ihr Vater? Wenn Herr Heyen wollte, könnte er ihr das Leben an der Schule zu Hölle machen.
Sie kannte an ihrer Schule niemanden, der homosexuell war, hatte auch während ihrer Referendariatszeit niemanden kennengelernt. Oder zumindest niemanden, der offen damit lebte.
Und wie würden die Schüler reagieren, wenn sie erführen, dass eine Lehrerin an ihrer Schule lesbisch war? Bei vielen ihrer älteren Schüler hatte Meike durchaus den Eindruck, dass sie tolerant waren, und heutzutage war dank der Medien das Thema Homosexualität zumindest deutlich präsenter als zu ihrer eigenen Schulzeit. Aber auf der anderen Seite konnten Schüler sehr brutal und verletzend sein, wenn sie das wollten. »Schwule Sau« war nach wie vor ein gängiges Schimpfwort auf dem Schulhof, insbesondere bei den Jüngeren. Von Berührungsängsten ganz abgesehen.
Eine Gänsehaut überzog Meikes Körper. Sie beschleunigte ihre Schritte, um möglichst schnell zu ihrem Auto zurückzugelangen. Langsam wurde es zu kalt.
Und was hielten Eltern von einer lesbischen Lehrerin? Würde ihr bei all ihren beruflichen Entscheidungen ihre Sexualität unter die Nase gerieben werden, ganz egal, ob sie relevant war oder nicht? Würden die Eltern ihre Kinder gegen ihre Lehrerin einzunehmen versuchen? Sicherlich ging es in vielen Elternhäusern ähnlich konservativ zu, wie es bei Meike zu Hause der Fall gewesen war. Und Kinder konnten sich häufig gegen die ihnen aufgezwungene Meinung ihrer Eltern nicht wehren, jedenfalls nicht, bevor sie ein gewisses Alter erreicht hatten.
Meike sah sich einem riesigen Berg unbeantworteter Fragen gegenüber. Und sie kannte niemanden, der ihr hätte weiterhelfen können.
Aber war das überhaupt notwendig? Gab es einen Grund, dass sie unbedingt versuchen musste, Antworten zu finden? Sie war ja überhaupt nicht lesbisch. Also stand dieses Thema gar nicht zur Debatte.
Sie hatte ihr Auto erreicht. Es war an der Zeit, nach Hause zu fahren. Sich über all diese Fragen den Kopf zu zerbrechen, war völlig unnötig.
~*~*~*~
F ranzi schloss die Tür der Apotheke ab. Ihre Kollegen hatten längst Feierabend gemacht. Sie hatte sich angeboten, an diesem Abend die Aufräumarbeiten zu übernehmen. In ihrer Wohnung fiel ihr ohnehin die Decke auf den Kopf.
Sie nahm einige Medikamentenschachteln, die im Laufe des Tages unter dem Tresen gelandet waren, weil die Kunden sie doch nicht hatten haben wollen, und ordnete sie in die entsprechenden Schubladen ein. Die Apotheke in Goslar war deutlich kleiner als die, in der sie in Braunschweig gearbeitet hatte. Dafür herrschte hier ein viel freundlicheres Betriebsklima, fast familiär. Franzi arbeitete gern hier.
Nachdem alle Schachteln und Döschen verstaut waren, widmete sich Franzi den Medikamenten in der Auslage. Zuerst sortierte sie die Präparate gegen Magenschmerzen, Übelkeit und Durchfall und füllte die Lücken auf, die tagsüber entstanden waren. Als nächstes kam sie zu den Erkältungspräparaten. Versehentlich stieß sie gegen das Regal; eine Packung fiel zu Boden. Franzi bückte sich und nahm die kleine gelbe Schachtel in die Hand. Sie seufzte. Halsschmerztabletten. Die Sorte, die sie Meike verkauft hatte.
Franzi setzte sich auf einen Hocker, die Schachtel noch immer in der Hand.
Es war immer das Gleiche: Meike geisterte durch ihre Gedanken, was sie auch tat, wo sie auch war. Sie sah Meike vor sich, bezaubernd lächelnd, wie sie so überraschend vor ihr gestanden hatte.
Die Erinnerung ließ sie schmunzeln. Dass Meike wirklich Halsschmerzen gehabt hatte, hatte sie keine Sekunde geglaubt. Meike hatte sie wiedersehen wollen. Daran bestand kein Zweifel.
Aber warum? Was war das zwischen ihnen?
Franzi drehte die Schachtel zwischen ihren Fingern. Dieses Kribbeln in ihrem Bauch, jedes Mal, wenn sie an Meike dachte. Diese Schmetterlinge, wenn sie in Meikes Augen sah. Diese Unbeschwertheit in Meikes Nähe. Das Glücksgefühl.
Genau diese Gefühle hatte sie schon einmal gehabt. Sie hatte fast vergessen, dass es so etwas gab. Elf Jahre war das nun her. Damals, als sie Isabel getroffen hatte.
Aber . . .
Franzis Herz schlug schneller. Konnte es wirklich sein, dass sie mehr für Meike empfand als Freundschaft? Hatte sie sich ernsthaft in Meike verliebt?
Natürlich, während der
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