Klassentreffen
wieder. Können Sie mir erklären, wie das kommt?«
Ich halte seinem Blick stand, ohne zu blinzeln. »Wie das kommt, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich jetzt gefestigter bin und mich der Wahrheit eher stellen kann.«
»Der Wahrheit«, wiederholt Hartog. »Und die Wahrheit besteht Ihnen zufolge darin, dass Isabel Hartman ermordet wurde.«
»Ja, ich habe sie nämlich da liegen sehen. Vor einiger Zeit kam die Erinnerung zurück: Ich habe sie vor mir gesehen, als wäre es gerade eben passiert. Ihr Gesicht, die aufgerissenen Augen, Sand in ihrem Haar …« Ich schaudere. »Ich verstehe nicht, wie ich das vergessen konnte.«
»Ich auch nicht, Fräulein Kroese.« Hartog lässt mich nicht aus den Augen.
»Meine Psychologin hat von Verdrängung gesprochen«, sage ich. »Sie hatte schon früher die Vermutung, dass ich Dinge aus meiner Vergangenheit verdränge.«
Hartog verstaut die Kopie aus Isabels Heft in der Akte und sieht mich aufmerksam an. »Aha, Sie sind also in psychologischer Behandlung.«
Ärgerlich sehe ich ihn an. Darüber will ich mich jetzt absolut nicht unterhalten. »Ich war in Behandlung, ja. Aber nicht sehr lange, und inzwischen geht es mir wieder gut.« Ich schlage ein Bein über das andere und bemühe mich,
einen ruhigen, ausgeglichenen Eindruck zu machen. Hartog guckt mich lauernd an.
»Ich wüsste nicht, was das für eine Rolle spielt«, füge ich hinzu. »Ich bin schließlich nicht verrückt. Und dass es so etwas wie Verdrängung gibt, ist eine allgemein anerkannte Tatsache in der Psychologie. Ich verstehe nicht, weshalb Sie nicht froh darüber sind, dass mein Gedächtnis wieder funktioniert und ich zur Aufklärung des Falls beitrage.«
»Doch, darüber bin ich sehr froh, Fräulein Kroese.« Hartog klappt die Akte zu, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Fingerspitzen aneinander, wie ein Arzt, der einen komplizierten medizinischen Fall studiert. »Ich fasse also kurz zusammen: Sie waren Zeugin des Mordes an Isabel Hartman, neun Jahre lang konnten Sie sich an nichts mehr erinnern, aber jetzt kommt alles langsam wieder hoch. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja.« Ich weiche seinem Blick nicht aus.
»Haben Sie auch gesehen, wer Isabel Hartman ermordet hat?«
»Nein. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich sah, wie sie auf einer Waldlichtung lag. Sie war tot.« Während ich das sage, wird mir klar, wie das auf einen Außenstehenden, insbesondere auf einen Kripomann, wirken muss. Hartog schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen wie versteinert an, und mit einem Mal empfinde ich die Atmosphäre im Raum als beklemmend.
»Sie haben den Mörder also nicht gesehen?«
»Nein.«
»Erinnern Sie sich, ob noch jemand an der fraglichen Stelle war außer Ihnen selbst?«
Ich zögere. In meinem Traum habe ich einen Mann auf Isabel zugehen sehen, aber wie verlässlich sind Träume? Als Erinnerung kann ich das wohl nicht bezeichnen, trotzdem
scheint es mir wichtig. Vielleicht starrt Hartog mich ja nicht mehr so misstrauisch an, wenn ich ihm von dem Mann erzähle.
»Zwischen den Bäumen habe ich eine Gestalt gesehen. Einen Mann«, sage ich.
»Was hat er gemacht? Lief er weg, stand er einfach da oder ging er auf Isabel Hartmann zu?«, fragt Hartog routinemä ßig. Ich hatte gehofft, er würde nach dieser Neuigkeit völlig aus dem Häuschen geraten, zumal sie einen Durchbruch in diesem Fall bringen könnte, aber seine Stimme klingt eher gelangweilt.
»Erst stand er nur da, aber als sie ihn sah, ging er auf sie zu«, sage ich.
»Hatten Sie den Eindruck, dass sie Angst hatte?«, fragt Hartog.
»Nein«, sage ich. »Sie hat ihn angelächelt.«
Hartog wirft einen Blick auf die Akte und spielt mit seinem Kuli herum. »Tja«, sagt er und schweigt ein Weilchen. »Die Frage ist, wie verlässlich Ihre Erinnerungen sind, Fräulein Kroese. Erinnerungen können sich im Laufe der Jahre stark verändern.«
»Sie könnten doch dort graben«, schlage ich vor.
»Graben? Wo?«
»In den Dunklen Dünen selbstverständlich. Wo die Lichtung liegt, ist ein bisschen kompliziert zu beschreiben, aber ich könnte Ihnen einen Plan zeichnen.«
Nun, da ich die Stelle offenbar genau bezeichnen kann, sieht mich Hartog mit neu erwachtem Interesse an.
Er nickt und schiebt mir ein Blatt Papier und einen Kuli hin. »Machen Sie mal.« Während er seinen Kaffee trinkt, male ich die Spazierwege der Dunklen Dünen auf, die ich wie meine Westentasche kenne. Sogar die etwas abgelegeneren Wege, die ich nicht so leicht
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