Klassentreffen
fühle mich wie ein Häftling, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und vorsichtig den Duft der Freiheit schnuppert. Ein Hund rennt bellend ein Stück neben mir her, aber das macht mir keine Angst. Ich mag Hunde, am liebsten hätte ich selbst einen. Manchmal denke ich, dass sich Hundebesitzer oft ein Tier aussuchen, das ihnen ähnlich ist, und habe damit wahrscheinlich gar nicht mal Unrecht. Falls es so etwas wie Wiedergeburt gibt und ich im nächsten Leben ein Hund werde, dann wäre ich wohl ein Golden Retriever. Mein Bruder Robin hat eher etwas von einem Pitbull. Robin mag keine folgsamen Hunde, die sich kujonieren lassen. Ihm sind die rauflustigen lieber.
Sowohl äußerlich als auch vom Charakter her sind mein Bruder und ich uns gar nicht ähnlich. Robin ist zwei Köpfe
größer als ich, hat Arme wie ein Bauarbeiter, aber ohne Tätowierungen, und dunkles, ganz kurz geschnittenes Haar. Außerdem hat er ein extrovertiertes, dominantes Wesen – kurzum: Er ist einer, der sich nicht auf der Nase rumtanzen lässt, zumindest nicht von Fremden. Für mich ist er ein Bruder, wie ihn sich jedes Mädchen nur wünschen kann, und er fehlt mir beinahe noch mehr als meine Eltern.
Ich weiß noch, wie ich an einem sonnigen Apriltag – ich muss um die vierzehn gewesen sein – von der Schule nach Hause fuhr. An Blumenfeldern entlang, auf denen mir Reihen von knallgelben Narzissenköpfchen im Wind zunickten. Bestimmt freut sich Mama, wenn ich sie mit einem hübschen Strauß überrasche, dachte ich, und bevor ich mich versah, ließ ich das Rad auf den Grünstreifen fallen, warf noch einen raschen Blick zu dem Bauernhaus hinüber und sprang über den schmalen Graben zwischen Radweg und Feld.
Eigentlich ist so etwas völlig untypisch für mich. Erst hatte ich auch Angst, ein zorniger Bauer könnte plötzlich auf mich zustürmen, aber da nichts passierte, wagte ich mich ein Stück weiter. Als dann der Besitzer tatsächlich mit wutverzerrtem Gesicht auftauchte, war es zu spät, um noch davonzulaufen, denn er kam vom Feldrand her und schnitt mir so den Weg ab. Schreckensstarr stand ich zwischen den Narzissen. Der Mann lief auf mich zu, und ich stotterte noch etwas von wegen bezahlen, aber da hatte er mich schon am Arm gepackt, zum Graben gezerrt und hineingestoßen. Mit einem gut gezielten Tritt in den Hintern; wegen der blauen Flecken konnte ich tagelang nicht mehr richtig sitzen. Heulend kroch ich aus dem Graben und fuhr nach Hause. Dabei fror ich erbärmlich in den nassen Sachen. Meine Mutter und Robin saßen im Garten, als ich ankam. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie aus meinem verworrenen
Gerede schlau wurden und begriffen, was genau passiert war.
»Tja, mein Kind, so was darf man eben nicht machen«, sagte meine Mutter sachlich. »Wenn der Bauer allen Leuten erlauben würde, einen Strauß Narzissen zu pflücken …«
Solche Bemerkungen waren typisch für meine Mutter. Natürlich hatte sie Recht, aber schließlich waren die Narzissen für sie gedacht gewesen, sodass ich schon ein bisschen Mitgefühl erwartet hatte. Meine Mutter war schon immer ziemlich vernunftbetont. Ärger mit einem Lehrer? Dann wirst du ihm wohl frech gekommen sein oder hast sonst irgendetwas angestellt. Von einem wütenden Passanten im Einkaufszentrum vom Rad geschubst und dabei den Knöchel verstaucht? Tja, im Einkaufszentrum darf man eben nicht Rad fahren. Mir war durchaus klar, welchen Anteil ich selbst an dem Drama hatte, aber verstört war ich trotzdem, und ein paar tröstende Worte hätten mir einfach gut getan. Im Nachhinein weiß ich, dass ich dadurch nur noch mehr verweichlicht wäre und dass sich meine Mutter alle Mühe gab, mir beizubringen, mehr für mich einzustehen und mir ein dickeres Fell zuzulegen. Doch damals fühlte ich mich einfach nur im Stich gelassen.
Ganz anders Robins Reaktion! Mit wachsender Entrüstung hörte er sich meine Geschichte und mein Geschluchze an, warf meiner Mutter nach ihrem sachlichen Kommentar einen wütenden Blick zu und sagte: »Das mag schon stimmen, aber deshalb braucht dieser Mistkerl sie doch nicht gleich in den Graben zu stoßen. Mit einem Tritt in den Hintern, wohlgemerkt! Ein vierzehnjähriges Mädchen … Was ist denn das für ein Held? Sieh doch, sie kann kaum noch sitzen! Meine Güte, und das wegen ein paar lächerlicher Narzissen! Spinnt der denn komplett? Wo wohnt der Kerl, Sabine?«
Ich sagte es ihm, und er stand auf und zog seine Lederjacke an.
»Was hast du vor?«, fragte meine
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