Klassentreffen
Olafs Scherze klingt schrill. Benimm dich nicht wie ein Teenie, Sabine, sage ich mir. Das hier ist Olaf, du kennst ihn.
Aber mein Gefühl sagt etwas ganz anderes. Nicht jetzt, wo er mich so ansieht. Verzweifelt bemühe ich mich um einen lockeren Tonfall: »Äh … du arbeitest hier wohl noch nicht sehr lange, oder? Ich meine, ich hab dich hier noch nie gesehen.«
»Erst seit ein paar Monaten.« Schamlos lässt er den Blick von meinen Beinen zum Busen gleiten. Die Anerkennung darin verwirrt mich.
»Ich war krank. Ein Burn-out«, erkläre ich. Depression klingt gleich so nach Zwangsjacke.
Olaf schnalzt mit der Zunge.
»Ach je«, sagt er mitfühlend. »Warst du lange außer Gefecht?«
»Ziemlich lange.«
»Und jetzt gehst du’s also langsam wieder an, ja?«
Ich nicke. Eine kurze Stille, in der wir uns leicht verlegen anschauen, oder besser gesagt, ich schaue ihn verlegen an,
denn er lächelt völlig entspannt. Was gefällt mir eigentlich so an ihm? Seine Gesichtszüge sind zu kantig und unregelmä ßig, als dass man sie schön nennen könnte, und die blauen Augen zu hell, als dass sie einen reizvollen Kontrast zu den blonden Wimpern und Brauen bilden würden. Sein Haar ist dick, aber störrisch, eines von der Sorte, das nie richtig sitzt. Trotzdem, seine Größe und die breiten Schultern machen ihn zu einer attraktiven Erscheinung. Wie sehr er sich doch verändert hat! Ihn wiederum scheint mein Äußeres ebenfalls zu überraschen, dabei dachte ich immer, ich hätte mich seit dem Gymnasium kaum verändert. Mein hellbraunes, glattes Haar trage ich nach wie vor schulterlang, ich schminke mich kaum, bis auf Lidstrich und Wimperntusche, und mein Geschmack, was Kleidung angeht, hat sich auch nicht groß geändert. Ich richte mich nach der Mode, bin aber keine Trendsetterin. Es dauert immer eine Weile, bis ich die größten Modeschocks verdaut habe, sie schätzen und die entsprechenden Sachen auch tragen kann. Meistens sind sie bis dahin schon wieder out. So war das früher, und so ist das auch heute noch. Aber Olaf guckt mich an, als wäre ich das coolste Girl, dem er seit langem begegnet ist, was natürlich Quatsch ist. Wahrscheinlich macht er sich nur über mich lustig.
»So ein Zufall, dass wir uns hier getroffen haben«, sagt Olaf mit einem strahlenden Lächeln. »Andererseits scheinen alle nach Amsterdam gezogen zu sein. Wenn du wüsstest, wie viele alte Bekannte ich hier schon getroffen habe. Früher oder später läuft man hier jedem über den Weg. Aber sag mal, musst du jetzt gleich nach Hause, oder wollen wir noch zusammen essen?«
Erschrocken sehe ich ihn an. Zusammen essen? Damit er mich die ganze Zeit anstarrt und mir die Hände zittern, wenn ich die Gabel zum Mund führe?
»Äh … nein, ich muss gehen. Ein andermal vielleicht«, murmle ich.
Der Lift hält an, und die Türen gleiten auf. Aus dem Lift gegenüber kommen gerade Renée und ein paar Kolleginnen.
»Nun gib dir schon einen Ruck«, sagt Olaf. »Du musst doch sowieso was essen. Also können wir’s genauso gut zusammen machen.«
Renée schaut von mir zu Olaf, ihr Blick hat etwas Ungläubiges.
»Okay, wär schon nett, noch ein bisschen zu plaudern«, sage ich schnell.
Gemeinsam gehen wir zur Kantine, als hätten wir all die Jahre Kontakt gehalten. Renée folgt uns mit ihren Hofdamen im Schlepptau.
Olaf und ich nehmen uns jeder ein Tablett und begutachten das Angebot am Büfett.
»Ich nehme Kroketten«, sagt Olaf. »Du auch?«
»Klar.« Im letzten Jahr habe ich von Prozac und den vielen Tafeln Trostschokolade fünf Kilo zugenommen. Diese eine Krokette macht den Kohl auch nicht mehr fett.
Wir gehen an einen Tisch in der Nähe von Renée und ihrem Gefolge. Sie setzt sich so, dass sie mich im Blick hat.
Ich bemühe mich um eine möglichst entspannte Haltung und lächle Olaf an.
»Hast du das mit dem Ehemaligentreffen gelesen?«, fragt er, während er Senf auf seine Krokette kleistert.
Ich nicke und schneide meine Krokette in Stücke. Kommt gar nicht infrage, dass ich mit den Fingern esse. Einmal zubeißen, und die Fleischpampe läuft mir charmant aus den Mundwinkeln.
»Und, gehst du hin?«
Ich denke an die große Pause, die Grüppchen, die überall zusammenstanden, das Mäuerchen, auf dem ich ganz allein hockte.
»Nein«, sage ich entschieden und nehme einen Bissen.
Olaf lacht. »Ich habe auch keine große Lust darauf«, sagt er und zermanscht seine Krokette, indem er sie in zwei Brötchenhälften zusammendrückt. »Wenn ich mit
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