Klassentreffen
Mutter misstrauisch.
»Dem Typen klar machen, dass er sich nicht an jungen Mädchen vergreifen darf«, antwortete Robin.
»Das lässt du schön bleiben!«, sagte meine Mutter entschieden. Sie hatte großen Einfluss auf Robin, aber inzwischen war er schon sechzehn, groß und kräftig für sein Alter, ziemlich eigensinnig und sehr aufbrausend. Wir hörten das Geknatter seines Mopeds, und weg war er. Beim Abendessen erfuhr ich dann, was passiert war. Er war zu dem Hof gegangen, hatte einen Mann im blauen Overall mit einer Schubkarre gesehen und ihn gefragt, ob er der Rüpel sei, der am Nachmittag seine Schwester in den Graben gestoßen habe. Der Bauer bestätigte dies und wollte sich gerade verteidigen, doch er hatte den ersten Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Robin ihm auch schon ein paar Tritte verpasst und ihn in den Graben geworfen hatte.
Der Bauer erstattete keine Anzeige – was meine Mutter noch lange Zeit befürchtete -, und ich vergötterte meinen Bruder noch mehr als vorher.
Ich biege rechts ab, verlasse den Park und fahre an den Stra ßenbahnschienen entlang nach Hause. Ich krame in der Tasche meiner Wildlederjacke nach dem Schlüssel und öffne die Haustür. Mein Rad stelle ich unten im Hausflur ab; Frau Bovenkerk, die im zweiten Stock wohnt, hat zum Glück nichts dagegen.
Sicherheitshalber schließe ich das Rad ab und gucke dann in den Briefkasten neben der Haustür. Post! Zwei Briefe sogar. Schnell hole ich sie heraus und sehe mit einem Blick, dass es Rechnungen sind.
Ich gehe nach oben, schließe auf und betrete meine Wohnung. Stille empfängt mich. Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkt nicht.
Ich belege ein Brot mit Erdbeeren und esse es, während ich am Küchenfenster stehe. Die Sonne scheint auf die Häuser gegenüber, die dringend mal gestrichen werden müssten. Der ganze Nachmittag liegt vor mir; ich kann ihn gemütlich in meinen vier Wänden verbringen. Oder soll ich rausgehen? Eine Runde durch den Park drehen? Mein Blick wandert zum Fenster; die Sonne scheint vorwurfsvoll auf die verdreckte Scheibe. Auf einmal überkommt mich eine ungeheure Müdigkeit. Ich lasse mich aufs Sofa sinken, blättere in einer Zeitschrift, starre ein Weilchen aus dem Fenster, soweit das überhaupt geht, und schalte dann den Fernseher ein. Lange kommt nichts Besonderes, doch dann fängt As the World Turns an. Meine Lieblingssoap. Auf meine TV-Freunde kann ich mich verlassen. Mit Problemen, gegen die meine ein Klacks sind, helfen sie mir immer wieder, den Tag zu überstehen. Ich kommentiere ihre Dummheiten und weiß genau, wie sie’s besser hätten machen sollen. Es ist eine Genugtuung, sein Leben wenigstens ein bisschen besser auf die Reihe zu bekommen als andere. Zumindest bin ich nicht ungewollt schwanger und leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Im Grunde genommen kann ich mich nicht beklagen. Vorausgesetzt, man betrachtet es als Vorteil, niemanden zu haben, der einen schwängern könnte oder einem während einer lebensbedrohlichen Krankheit beisteht.
Auf einmal muss ich an Bart denken. Warum nur? Ich habe schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Vielleicht liegt es daran, dass ich heute Olaf begegnet bin. Ja, das würde auch die seltsame Nervosität erklären, die mich ergriffen hat. Ich muss viel zu oft an früher denken, aber mit Olaf hat
das nichts zu tun, es ist die Begegnung, die alte Erinnerungen in mir wachruft.
Ich schiebe sie weit von mir und konzentriere mich auf As the World Turns , aber es ist Bart, der mich vom Bildschirm ernst anschaut, und es ist Isabel, die die Rolle der Rose übernimmt. Verärgert schalte ich auf einen anderen Sender, aber das bringt nichts. Die Erinnerungen lassen mich einfach nicht los. Schlimmer noch: Es tauchen Bilder auf, die ich längst vergessen hatte.
Ich mache den Fernseher aus, schlüpfe in meine Jeansjacke und nehme die rote Schultertasche. Unten schließe ich mein Rad auf und fahre ins Kaufhaus Bijenkorf. Es ist ein ganzes Stück mit dem Rad bis ins Zentrum, aber die Bewegung tut mir gut.
Ich fahre mit der Rolltreppe nach oben und sehe mich bei den weißen, hellblauen und limonenfarbenen Röcken und T-Shirts um. Eine Verkäuferin kommt lächelnd auf mich zu. Sie hat kurzes schwarzes Haar und dunkelblaue Augen. Einen Moment lang stockt mir das Blut in den Adern. Man könnte meinen, Isabel sei von den Toten auferstanden und würde jetzt als Geist auf mich zuschweben.
Panisch drehe ich mich um und fliehe zur Rolltreppe. Runter, nur runter,
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