Klassenziel (German Edition)
weiß, dass es nicht gut ist, wenn ich nur in der Vergangenheit lebe. Im Grunde ist das nichts anderes, als dauernd einen schmerzenden Zahn zu betasten. Also schließe ich das Videoprogramm und wechsle zu Facebook. Ich versuche, Maxi dort zu finden, aber obwohl drei Leute namens Maximilian König registriert sind, ist er nicht dabei. Schade, ich hätte sonst vielleicht mit ihm chatten können.
Dafür hat Kenji meine Freundschaftsanfrage akzeptiert, und er ist gerade on. Ich stöbere erst mal ein bisschen auf seiner Profilseite rum und schaue mir die Unmengen an Bildern an, die er da hochgeladen hat. Es wundert mich nicht, dass er sich so gern fotografieren lässt. Ich meine, er ist ja eine wandelnde Inszenierung. Fingerlose Handschuhe, sieben Piercings im linken Ohr, Haare, die wie gewaltige Stacheln vom Hinterkopf abstehen, silberne Halsketten mit japanischen Schriftzeichen und Manga-Shirts – wozu das alles, wenn man es nicht für die Nachwelt festhält?
Fasziniert sehe ich mir das Video an, in dem er zu einem Primus-Song Bass spielt, offenbar live. Ich muss aufpassen, dass ich nicht auf meine Tastatur sabbere. Der Junge hat’s echt drauf! So hab ich noch nie jemanden einen Bass bearbeiten sehen. Ich lasse das Video noch mal abspielen und achte genau auf seine Finger. Die flitzen über die Saiten wie Insekten, rasend schnell und dabei ganz zart. Und er guckt kein einziges Mal runter, wie es Anfänger machen, sondern lächelt in die Kamera oder schließt hingebungsvoll die Augen.
Nach drei weiteren Durchläufen bin ich mir absolut sicher: Ich will mit Kenji zusammen in einer Band spielen. Obwohl das bedeutet, dass ich die Hälfte der Fans an ihn abtreten müsste. Mindestens. Vielleicht auch zwei Drittel. Aber das ist es mir wert.
D ie nächste MMS kam um 3.26 Uhr. Diesmal war ich zwar hellwach, aber ich erschreckte mich so sehr, dass ich die leere Bierflasche umschmiss. Derselbe Absender. Aber das zweite Video war völlig anders als das erste. Sehr schlechte Bildqualität, offenbar bei Dunkelheit gefilmt. Man erkennt nur ein paar verschwommene Umrisse. Das muss draußen sein, da sind Büsche, und in der Mitte bewegt sich was. Ein paar helle Flecken auf dunklem Grund. Stimmen sind zu hören, aber sie sprechen nicht – sie flüstern. Oder … stöhnen. Eine davon wird lauter, und ich erkenne sie. Das ist Billie.
Der eine helle Fleck ist Billie, der andere bin ich, wir knutschen wild auf einer Bank im Park, und jemand hat uns dabei gefilmt. Billie stöhnt meinen Namen, laut und deutlich. Mehrmals. Ich erinnerte mich. Mein eigenes Keuchen wird ebenfalls lauter.
Mir wurde ganz allmählich klar, was diese beiden Videos miteinander zu tun hatten. Jetzt hatte ich mal ein richtiges Problem.
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H ab mir gerade dein bassvideo angesehen. sehr geil!! würde mir gern wieder ne band zusammenstellen, hast du interesse?» Ich hab Herzklopfen, als ich die Nachricht an Kenji absende. Fast so, als würde ich ihn um ein Date bitten. Ich starre regungslos auf den Bildschirm, bis die Antwort kommt: «ich spiel bei den COSMIC SHOCKS»
Aha, und was heißt das? Klingt eher wie eine Absage, oder? Da ich keine Ahnung habe, wer oder was die Cosmic Shocks sind, gebe ich den Begriff in die Suchmaschine ein. Keins der Ergebnisse hat irgendwas mit Musik zu tun. Ich bin ratlos, enttäuscht und ein bisschen sauer über diese bescheuerte Antwort, mit der ich nichts anfangen kann. Na gut, dann schieb dir deinen Bass halt in den Arsch, Ninja.
I ch hatte absolut keinen Plan, was ich tun sollte, aber eins wusste ich genau: Wenn Dominik nach Hause kam, wollte ich nicht schlafend im Bett liegen. Das hatte weniger was mit Angst zu tun als vielmehr mit dem Gefühl, dass ich ihm eine Erklärung schuldig war. Obwohl Angst natürlich auch irgendwie eine Rolle spielte. Ich konnte nicht richtig einschätzen, wie er reagieren würde. So eine Situation erlebt man ja schließlich nicht jede Woche.
Nicht zu schlafen machte mir echt keine Schwierigkeiten. Wie hätte ich mich wohl auch nach diesen beiden MMS in mein Bett kuscheln und schlafen sollen? Ich war hundemüde und ein bisschen benommen von dem Bier, aber die Gedanken fuhren in meinem Kopf Achterbahn, und dauernd fühlte ich mein Herz hämmern, das seine Arbeit normalerweise eigentlich viel diskreter erledigte.
Egal – Dominik kam sowieso nicht nach Hause. Es wurde vier, fünf, sechs Uhr, und er kam nicht zurück. Danach muss ich wohl doch irgendwie eingeschlafen
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