Klassenziel (German Edition)
wieder schob er mir die Keule in den Mund. Wenn ich nicht daran ersticken wollte, musste ich wohl schlucken. Der Würgereflex kam ohne mein Zutun.
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O bwohl es mir schwerfällt, lasse ich den Computer zugeklappt, bis ich meine Hausaufgaben erledigt habe. Das zieht sich ziemlich in die Länge, weil wir für Ethik eine ausführliche Abhandlung über die Vorbildfunktion schreiben sollen und wie wir selbst als Vorbilder auf andere einwirken können.
Eigentlich mag ich solche Themen, und es fällt mir nicht besonders schwer, darüber zu schwafeln. Aber blöderweise muss ich dauernd an einen Aufsatz denken, den wir in der dritten Klasse mal geschrieben haben: «Mein größtes Vorbild». Damals hatte ich über Dominik geschrieben.
Im Grunde war das unehrlich, denn ich wusste auch damals schon, dass ich Nick eine Menge voraushatte und mir nur selten wirklich ein Beispiel an ihm nahm. Aber ich kannte ja meine Lehrerin. Auf so einen Aufsatz würde sie total abfahren. Die würde das süß finden, dass ich meinen Bruder bewunderte, weil das so was Kindlich-Naives hat. Ich hab damals geschrieben, wie gern ich auch aufs Gymnasium wollte, so wie er, und dass ich deswegen immer ganz fleißig lernen würde. Was war ich bloß für ein Schleimer!
S o langsam kapierte ich, was mein Bruder mit dieser Inszenierung ausdrücken wollte. Dann war Billie wohl die weggeschmissene Hühnerkeule? Und ich derjenige, der sie ihm andrehen wollte? Ganz schön unfair. Ich hatte doch in Wirklichkeit fast schon edle Absichten gehabt. Aber das konnte ich ihm im Moment echt nicht verständlich machen, vor allen Dingen, weil ich jetzt schon so viel Ekelfleisch im Mund hatte, dass ich fürchtete, den Tag nicht zu überleben.
Ich konnte Nicks Gesicht über mir sehen, und am meisten schockierte mich, dass er so völlig entschlossen und mitleidlos aussah. Er sah mir gar nicht in die Augen, sondern konzentrierte sich nur darauf, mir mit aller Kraft das Huhn reinzupressen. Offenbar hatte er sich über einen längeren Zeitraum in diesen Plan reingesteigert, und jetzt konnte ihn nichts mehr stoppen. Ich wollte Nick anschreien: «Ich bin dein Bruder, Mann, was tust du da?», aber dazu hätte ich ja den Mund aufmachen müssen.
Eigentlich hätte er mir mein Entsetzen vom Gesicht ablesen müssen, aber er war nicht erreichbar. Er hockte auf meinem Bauch wie ein völlig Fremder, und zwar einer, den ich lieber gar nicht kennen wollte, und er tat mir richtig weh. Erst eine Kotzewelle, die mit ordentlichem Druck aus mir rausschoss, ließ Dominik endlich zurückprallen. «Bah, du Drecksau», fluchte er und wischte sich das Zeug vom Hemd. Mein Magen schickte direkt noch eine Ladung hinterher, die ihn aber verfehlte, weil er aufgesprungen war. Er verschwand im Bad.
Ich rollte mich keuchend auf die Seite, während mir alles Mögliche aus Augen, Nase und Mund tropfte. Der Gestank war abartig. Mir taten die Rippen weh, auf denen Nick mit seinem ganzen Gewicht gesessen hatte. Vor den Augen hatte ich so ein rotes Flimmern. Irgendwas stimmte mit meiner Atmung nicht. Neben, auf und unter mir verteilten sich die Überreste der Hähnchenkeule.
Dominik blieb lange im Bad. Als er endlich zurückkam, glänzten Wassertropfen auf seinen nackten Schultern und in seinen Haaren. Er kletterte in sein Bett, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen, zog sich die Decke über den Kopf und stellte sich schlafend.
Ich beeilte mich, meine Klamotten zu wechseln und die Sauerei aus dem Teppich zu rubbeln, ehe meine Mutter was checkte. Nick war mir unheimlich geworden. Ich behielt sein Bett ganz genau im Auge und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich dort eine Bewegung wahrnahm.
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M ein Vater kommt heute spät nach Hause. Ich habe alle Hausaufgaben erledigt und sogar noch mal ein bisschen Französisch geübt auf dieser Selbstwertvernichtungsseite, die mir die Brüninghaus empfohlen hat. Wir essen zusammen zu Abend. Er ist müde und kaputt, aber er gibt sich trotzdem viel Mühe, mir zuzuhören und auf mich einzugehen. Und das weiß ich auch sehr zu schätzen, aber eigentlich würde ich über die meisten Sachen lieber mit einem Kumpel quatschen.
Deshalb gehe ich nach dem Essen noch mal an meinen Laptop und schaue nach, was sich bei Facebook getan hat. Im Moment scheint das ja meine einzige Verbindung zu einer Außenwelt zu sein, die aus unter Vierzigjährigen besteht. Leider totale Fehlanzeige. Kenji hat sich nicht noch mal gemeldet, die
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