Klassenziel (German Edition)
sein, denn plötzlich stand meine Mutter vor mir und machte mir die Hölle heiß. Vor mir auf dem Couchtisch stand der schmutzige Teller mit den Pizzaresten drauf und daneben die leere Bierflasche. Ich bin echt nicht gut im Regelbrechen. Zu doof, um die Beweisstücke verschwinden zu lassen.
Ich murmelte ein paar Entschuldigungen wie ein beim Klauen erwischter Erstklässler, räumte schnell auf und schlich mich dann nach oben, um nachzusehen, ob Nick inzwischen zurück war. Mittlerweile hatten wir halb elf. Er war immer noch nicht da. Selbst die wildeste Geburtstagsparty dauert nicht so lange, also – wo steckte er?
[zur Inhaltsübersicht]
47
J etzt bin ich so frustriert, dass ich es kaum noch aushalten kann. Ich will mit irgendjemandem reden ! Scheiße, was mach ich bloß? Es hält mich nicht mehr an meinem Schreibtisch. Obwohl ich noch nicht mal angefangen habe, meine Hausaufgaben zu machen, klappe ich den Laptop zu, renne die Treppe runter, ziehe mir Schuhe und Jacke wieder an und gehe raus. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen. Wahrscheinlich hat es soeben irgendeine Katastrophe gegeben, bei der alles Leben in dieser Stadt ausgerottet wurde, und ich hab’s mal wieder nicht gepeilt.
Ich marschiere in Richtung Schule. Das ist mehr oder weniger die einzige Richtung hier, es sei denn, man will in den Wald. Und das will ich ganz sicher nicht. Ich hab ein total dringendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe.
Ich überquere die Heerstraße, und als ich am Schulgebäude angekommen bin, bleibe ich stehen und starre es an, als könnte ich mir Gesellschaft herzaubern. Die Klinkerfassade gafft finster zurück. Natürlich ist alles wie ausgestorben. Es ist fast sechs Uhr. Drei Fenster im obersten Stockwerk sind erleuchtet. Vielleicht findet da irgendein VHS-Kurs statt, Ökologisches Papierschöpfen für Spätaussiedler oder so was.
Ich gehe weiter, einfach immer geradeaus. Das schnelle Laufen und die kühle Luft tun mir einigermaßen gut, obwohl ich eigentlich was anderes wollte. Scheiße, jetzt bin ich schon so vereinsamt, dass ich lange Spaziergänge mache wie der Typ aus diesem Rilke-Gedicht, der immer irgendwelche Alleen entlanglatscht und sich die Zeit mit Briefeschreiben vertreibt. Nur dass ich nicht mal wüsste, wem ich schreiben sollte.
Kurz darauf komme ich an eine große, unübersichtliche Kreuzung, gehe nach rechts, komme an eine noch größere, noch unübersichtlichere Kreuzung und stelle fest, dass ich mich total verlaufen habe. Ich frage drei verschiedene Leute nach der Soldauer Allee, aber keiner hat je was davon gehört. Dann entdecke ich eine Bushaltestelle mit einem riesengroßen Stadtplan, und wie sich rausstellt, bin ich gar nicht so weit weg von zu Hause. Ich präge mir den Weg ein und marschiere los.
M eine Mutter wollte natürlich auch wissen, wo Nick war, und ich sagte ihr, er wäre zu Marek gefahren. Ich fühlte mich zu schlapp, um ihr die Wahrheit zu erzählen. Außerdem war sie immer noch sauer auf mich. Sie setzte sich mit ein paar Zeitschriften in den Wintergarten, als hätte sie keine Lust auf meine Nähe.
Gegen halb zwei klingelte das Telefon, und ich ging ran. Es war Andrea, die Freundin aus Krefeld, bei der meine Mutter übernachtet hatte. «Na, wie war’s bei dem neuen Chinesen?», fragte ich.
«Wie bitte?»
«Bei dem neuen Chinesen», wiederholte ich. «Gestern Abend. Da wolltet ihr doch hin.»
«Gestern? Wer?»
In dem Moment kam meine Mutter ins Wohnzimmer, die das Telefon natürlich auch gehört hatte. Sie hatte einen total komischen Gesichtsausdruck und streckte schon aus drei Metern Entfernung die Hand aus. «Gib mal her», sagte sie.
«Was für einen Chinesen meinst du denn?», kam Andreas Stimme aus dem Hörer.
«Äh, ich reich dich mal weiter», sagte ich, übergab meiner Mutter das Telefon und beeilte mich, aus dem Zimmer zu verschwinden.
Ich ging rauf in mein Zimmer und schaltete den PC ein, ohne bestimmte Absicht, nur weil ich mich irgendwie ablenken wollte. Er war noch nicht ganz hochgefahren, da kam meine Mutter nach oben. Am liebsten hätte ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen und dreimal abgeschlossen. Oder mir wenigstens die Finger in die Ohren gesteckt und laut gesungen. Ganz ehrlich mal, ich war nicht in der Stimmung für das zu erwartende Gespräch. Ich hatte mehr als genug Probleme, sie sollte mich einfach in Ruhe lassen.
«Tja, dann weißt du’s jetzt eben», sagte sie und blieb mit verschränkten Armen mitten im Zimmer stehen. Sie wirkte
Weitere Kostenlose Bücher