Klassenziel (German Edition)
mit dir.»
«Nein! Auf keinsten! Lass mich los, Mann!»
Es entstand ein kurzes Gerangel. Ich klammerte mich am Türrahmen fest, und Nick schubste und drängte. Am Ende setzte er sich durch. Er war durch sein verfluchtes Hanteltraining einfach viel stärker als ich. Und außerdem war ich müde, erschöpft und ängstlich. Ich hatte eigentlich überhaupt keine Chance.
Nick knallte die Tür hinter mir zu. Es wurde stockfinster um mich, und der Gestank nahm mir den Atem. Ich hörte, wie mein Bruder irgendwas an der Verriegelung machte, und noch war ich zu geschockt, um mich zu rühren. Ich stand steif wie ein Brett auf dieser winzigen Fläche, damit ich nichts hier drin berühren musste.
Draußen wurde etwas Schweres herbeigeschleift und mit einem Rumpeln gegen die Tür gestemmt. Kurz danach sprang der Motor des Mopeds an und wurde dann ganz gleichmäßig immer leiser, bis es vollkommen totenstill um mich war.
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73
A n der Heerstraße gibt es eine kleine Parkanlage mit ein paar Bänken. Dorthin folge ich Kenji und zwei von seinen Freundinnen, Luna und Becky. Die Mädchen behandeln ihn wie einen kleinen Bruder. Manchmal kichern sie über ihn, manchmal streichen sie ihm liebevoll-belustigt über den Kopf, und manchmal tun sie total überlegen, als hätten sie ihm unzählige Jahre an Lebenserfahrung voraus. Er fühlt sich in dieser Rolle sichtlich wohl. Wie ich da reinpasse, ist mir noch nicht so klar. Ich halte mich erst mal zurück und guck mir das Ganze bloß an.
Becky ist kräftig und muskulös. Vielleicht würden einige sie sogar als dick bezeichnen, aber bei ihr schwabbelt nichts, alles ist fest und hart. Ihre Haare sind raspelkurz geschoren und orangerot gefärbt. Zu ihrer Camouflage-Army-Hose trägt sie ein ärmelloses T-Shirt, sodass man das Tattoo auf ihrem Oberarm sieht: einen Totenkopf, aus dessen Augenhöhlen Schlangen kriechen. Am rechten Handgelenk hat sie ein breites Lederarmband, und ihre Füße stecken in Springerstiefeln. Normalerweise würde sie mir Angst einjagen, aber ihr Verhalten ist im Gegensatz zu ihrer Aufmachung ganz friedfertig.
Luna ist ein großes, dünnes, blasses Goth-Mädchen. Ihr schwarzer Spitzenrock reicht bis zum Boden, obenrum trägt sie eine geschnürte Korsage aus glänzendem Material. Genau wie Becky ist sie tätowiert, allerdings auf der Schulter und in etwas kleinerem Format: eine schwarze Rose mit Blutstropfen auf den Blütenblättern.
Luna und Becky steuern zielstrebig auf eine Bank zu. Jeder packt seine mitgebrachten Vorräte aus und baut sie darauf auf: Schokoladenkuchen, Schinkensandwiches, Nudelsalat, Oreo-Kekse, Bananen, Käsebrötchen, Cupcakes, Essiggurken und Fruchtjoghurt. Die Zusammenstellung ist vielleicht ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber alles in allem ist es ein üppiges Büfett. Kenji hat eine Familienpackung Eistee und sogar einen Stapel Plastikbecher dabei, Becky holt zwei Flaschen Mineralwasser raus.
«Habt ihr das richtig geplant?», frage ich staunend.
«Nö. Das machen wir eigentlich jeden Tag so», erklärt Luna. «Wir essen nicht so gern in der Mensa.»
Am Anfang ist es mir ein bisschen peinlich, mich einfach an ihren Sachen zu bedienen, weil ich selbst gar nichts beigesteuert habe. Aber sie drängen mich regelrecht. «Hier, probier mal den Kuchen! Hab ich selbst gemacht!»
«Ja, und dann sag mir, wie dir mein Nudelsalat schmeckt!»
Wir reden hauptsächlich übers Essen, manchmal reden wir auch gar nicht, weil wir mit Kauen beschäftigt sind. Die Sonne hämmert ungebremst vom Himmel. Eine Frau mit einem kleinen Hund kommt vorbei und lächelt bei unserem Anblick. Luna bietet ihr einen Cupcake an, den sie vergnügt entgegennimmt und im Weitergehen aufisst. Der Hund guckt neidisch zu.
Ich würde mal sagen, das ist bisher die entspannteste Mittagspause an meiner neuen Schule. In der Gesellschaft von Kenji, Luna und Becky denke ich keine Sekunde darüber nach, worüber wir reden könnten oder was sie wohl von mir halten oder wie ich mich präsentieren soll, um von ihnen akzeptiert zu werden. Das ist alles überflüssig. Zwischen uns herrscht eine total selbstverständliche Einstimmigkeit. Zum ersten Mal vergesse ich, dass ich der Neue bin.
I ch bekam eine ziemlich gute Vorstellung davon, was «Schockstarre» bedeutet. Bei mir hielt sie echt lange an. Das Erste, was an mir wieder weich wurde, waren meine Knie, aber hinsetzen war ja wohl eindeutig keine Option. Bloß: Was genau waren denn eigentlich meine
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