Klassenziel (German Edition)
noch keine Antwort.
«Aber es gibt ja noch andere Ziele. Höhere Ziele. Oder bewegliche Ziele.» Er lachte, und ich fragte mich, was daran witzig sein sollte.
«Ich find das nicht so schlimm, wenn man hängenbleibt», sagte ich gegen meine Überzeugung und mit einer verdammt dünnen Stimme. «Das ist doch eigentlich so was wie eine zweite Chance.»
Nick warf einen kurzen Blick zu mir rüber, lachte noch mal – diesmal fast lautlos – und sagte: «Halt die Fresse, Jamie.» Ich gehorchte. Eigentlich wusste ich sowieso nicht, was ich sagen sollte.
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69
N ach dem Abendessen checke ich meine neuen Nachrichten. Kenji hat sein Versprechen gehalten: Er hat mir die Adresse von diesem Probenraum geschickt und wie ich da hinkomme, und mir noch mal die genaue Zeit dazugeschrieben. Und ganz unten steht: «let’s rock it, baby!» Darüber freue ich mich am meisten.
Dann fange ich an mit den Hausaufgaben. Natürlich ist das jetzt schon ein bisschen spät, und ich hab das Ganze auch mal wieder unterschätzt, deshalb werde ich erst kurz vor elf fertig und falle halbtot ins Bett. Aber in dieser Nacht schlafe ich tief und fest, und wenn ich überhaupt irgendwas träume, dann jedenfalls nichts Schlimmes.
D u hast echt überhaupt keine Ahnung», erklärte Dominik. «Ich denk manchmal, du lebst auf einem anderen Stern. Auf dem Planet Zuckerwatte oder so was. Wo alles süß und weich ist. Du hältst dich für den Prinz, was? Mit deinen Einsen und Zweien und deiner Scheißband und deinen supertollen blonden Prinzenlocken.» Nick wackelte mit dem Kopf. Das sollte wohl eine Parodie auf meinen legendären Bühnenauftritt sein. «Aber jetzt denk mal nach. Wann hast du jemals irgendwas wirklich Wichtiges geleistet? Hm? Ich meine, hast du schon mal irgendwas gemacht, wo die Leute in zehn, ach, meinetwegen auch nur in zwei Jahren noch von sprechen?»
«Die Burst Frenchies», sagte ich. Ich war ziemlich beleidigt, dass er mich so was fragte. «Von denen sprechen sogar unsere Urenkel noch.»
Dominik lachte mich noch nicht mal aus. Er guckte nur in die Dunkelheit vor uns und schwieg. «Burst Frenchies», sagte er dann. Oder besser gesagt: spuckte er. «Schon allein der Name ist widerlich. Als wenn einer von euch auch nur wüsste, wie ein Kondom überhaupt aussieht.»
«Ach, aber du, ja?», fauchte ich.
«Es gibt Leute, die nicht den ganzen Tag nur über ihren Schwanz nachdenken.»
«Ja, vielleicht, weil es sie so deprimiert?» Ich fand, dass unser Gespräch irgendwie eine kindische Wendung genommen hatte, aber trotzdem war ich nicht cool genug, um sachlich zu bleiben.
«Vielleicht aber auch, weil sie Spuren hinterlassen wollen. Und damit meine ich nicht auf ihrem Bettlaken.»
«Als wenn dir das nie passieren würde!», schnappte ich. Statt mal zu fragen, was er mit diesen Spuren überhaupt meinte. Ich weiß auch nicht, er machte mich so sauer, dass ich nicht mehr klar denken konnte.
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70
I ch hab mich schon an das morgendliche Radioprogramm gewöhnt und an die Stimmen der beiden Moderatoren. Ich kenne die Jingles vor der Werbung und vor den Nachrichten, und ich weiß, wenn ich aus der Dusche zurückkomme, spielen sie immer einen Hörerwunschtitel. Auch das Zischen und Röcheln von Papas Kaffeemaschine gehört zum Morgen-Soundtrack.
Für mich ist so was total wichtig. Wenn ich irgendwo neu bin, prägen sich mir als Erstes die Geräusche ein. Und die sind dann später für mich das, was für andere ein Fotoalbum ist, nur dass ich sie nicht so gut mit anderen teilen kann.
Wenn ich beispielsweise Züge vorbeirattern höre, dann denke ich sofort an unseren Urlaub in Lugano, weil wir da in einem kleinen Hotel direkt an der Bahnlinie gewohnt haben. Beim Klang von Kirchenglocken denke ich an meinen Opa, der mich früher am Sonntagmorgen immer mit zum Gottesdienst genommen hat. Eins meiner Lieblingsgeräusche ist das von einem Fernseher aus einem anderen Zimmer, aber so gedämpft, dass man nicht mehr verstehen kann, was gesprochen wird. Denn als Nick und ich noch klein waren, stand die Kinderzimmertür immer einen Spalt offen, und wir konnten den Fernseher aus dem Wohnzimmer hören und manchmal die Stimmen meiner Eltern.
«Vermisst du Mama eigentlich nicht?», fragt mein Vater beim Frühstück.
«Doch, natürlich», antworte ich spontan. Alles andere wäre ja wohl auch eine komische Reaktion. Aber ich denke dann noch mal in Ruhe darüber nach: Vermissen ist vielleicht nicht das richtige
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