Klassenziel (German Edition)
bewusst wurde, dass ich hier gerade kostbare Zeit verschwendete.
Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte keinen Schimmer, in welche Richtung ich musste. Aber wenn ich angestrengt lauschte, hörte ich ein leises Dröhnen wie von einer weit entfernten Autobahn, und ich dachte mir, in dieser Richtung gibt es wenigstens Menschen, also geh mal da lang.
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76
I rgendwie hab ich es geschafft, die Zeitschriften zum Ende der Unterrichtsstunde in meinem Rucksack verschwinden zu lassen. Aber mir ist klar, dass ich damit nicht viel bewirkt habe. Es könnten durchaus noch mehr Exemplare des Stern in den großen Kisten mit Kunstmaterial liegen, oder auch die entsprechenden Ausgaben von Spiegel, Focus und allen anderen Magazinen, die für Dominiks Berühmtheit gesorgt haben. In jedem davon ist auch ein Bild von mir zu sehen, zwar nur ein kleines, aber wer genau hinschaut, der erkennt mich darauf.
Erschöpft und etwas schwindelig taumele ich rüber in unseren Klassenraum zur letzten Unterrichtsstunde des Tages: Deutsch beim Wiesner, der heute per T-Shirt seine Begeisterung für die Red Hot Chili Peppers zum Ausdruck bringt. Eigentlich hatte ich geplant, ihn gleich vor der Stunde anzusprechen, mich für meinen Aussetzer vom letzten Mal zu entschuldigen und ihm mitzuteilen, dass ich das Buch inzwischen besorgt habe, aber ich bin immer noch zu durcheinander.
Später bin ich froh, dass ich mir das erspart habe, denn als er an meinem Tisch vorbeigeht und die Lektüre da liegen sieht, sagt er: «Ah! Benjamin hat die Buchhandlung endlich gefunden! Na, dann erzähl doch mal – was steht denn so drin in Kapitel sieben?»
Ich habe Kapitel sieben nicht gelesen. Nur den Anfang, und dann konnte ich nicht mehr. Aber das kann ich ihm wirklich nicht erklären. Ich schwitze und spüre genau, wie mein Herz hämmert. Einen schrecklichen Moment lang sehe ich mich in der Falle sitzen. Dann liefere ich eine Zusammenfassung, zwar langsam und etwas stockend, aber wenigstens sage ich überhaupt was.
Überall schwappt Gekicher hoch. Der Wiesner lässt mich zu Ende reden, obwohl er schon nach den ersten zwei Sätzen gemerkt haben muss, dass hier irgendwas nicht stimmt. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass er tatsächlich verunsichert ist. «Also … das ist aber doch nicht das Kapitel sieben hieraus, oder?» Er hält seine Ausgabe hoch.
«Nein», gebe ich leise zu. «Das war, das war aus, aus Little Brother von Cory Doctorow.» Schallendes Gelächter. Der Wiesner läuft rot an vor Wut und ignoriert mich für den Rest der Stunde. Ich krampfe meine Finger um einen Bleistift und starre auf die Tischplatte.
I ch glaube, ich bin am Anfang ein paarmal im Kreis gegangen. Und ich war auch so tierisch schlapp, dass ich mich zwischendurch mehrmals hinsetzen musste. Ich hatte wahnsinnigen Durst. Von dem Scheißhausgestank, der an mir dranklebte, wurde mir immer wieder schlecht. Die ganze Zeit traf ich keinen Menschen. Hier draußen gab es einfach niemanden.
Irgendwann erkannte ich das Industriegebiet wieder, durch das wir abends gefahren waren, und ich erinnerte mich noch, wo wir abgebogen waren. Als ich die Kaldenkirchener Straße erreichte, wäre ich vor Erleichterung fast zusammengebrochen, obwohl das eigentlich nur bedeutete, dass ich noch ungefähr zwei Stunden Fußmarsch vor mir hatte.
Ich stolperte diese endlos lange, gerade Landstraße entlang, und jeder Schritt kam mir vor wie ein Tagesmarsch. Inzwischen war die Sonne rausgekommen und dörrte mich noch mehr aus. Ich knotete mir meine Jacke um die Taille. Es gab ziemlich viel Verkehr, aber die Autos zischten alle gleichgültig an mir vorbei. Als wäre das ganz normal, dass früh am Morgen ein verdurstender, blutbeschmierter, dreckiger und nach Gülle stinkender Fünfzehnjähriger am Fahrbahnrand rumtorkelt.
Wenn ich nicht mehr konnte, setzte ich mich ins Gras. Meistens war es der Gedanke an Dominik, der mich wieder auf die Beine brachte. Vielleicht konnte ich seinen Selbstmord noch irgendwie verhindern, wenn ich nur rechtzeitig zu Hause war!
Zum Nachdenken hatte ich bei meiner Wanderung ja Zeit genug. Also überlegte ich mir, wie er es wohl machen würde. Schlaftabletten oder Gift hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Das ist ja mehr was für Mädchen. Ich traute ihm eher zu, dass er sich vor einen Zug warf oder von irgendwas Hohem runtersprang. Er würde bestimmt dafür sorgen, dass es eine Menge Blut und Knochensplitter gab, so wie in seinen Games. Natürlich, das
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