Klassenziel (German Edition)
Voraussicht nach würde ich auf diesem Scheißhaus sterben. Und als ich mir vorstellte, wie grauenhaft ich stinken würde – nach Scheiße und nach Verwesung, weil mich hier ja bestimmt monatelang keiner fand –, fing ich wieder an zu heulen.
Ich dachte an meine Eltern, wie schlimm das für sie sein würde. Ich dachte an die armen Polizisten, die mich hier rauskratzen mussten oder das, was bis dahin von mir noch übrig war. Ich dachte an den Bestatter, der wahrscheinlich versuchen würde, mich noch mal wieder einigermaßen zusammenzubasteln, damit ich in einen ordentlichen Sarg reinging. Ich dachte an Melody, mit der ich noch so viel vorgehabt hatte.
Und ich dachte an Dominik, dieses Arschloch, der an allem schuld war. Und der sich wahrscheinlich gerade irgendwo die Pulsadern aufschnitt oder vor einen Zug schmiss und es damit meinen Eltern noch schwerer machte. Dieser verdammte rücksichtslose Idiot!
Ich trat voller Wut auf die Tür ein. Sie gab nach und kippte nach außen weg. Ein Schwall reiner, würziger Morgenluft haute mich fast um. Benommen kletterte ich über die Plastiktrümmer nach draußen und legte mich prompt auf die Fresse, weil ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper hatte.
Ein paar Augenblicke blieb ich einfach liegen. Das war nach einer Nacht im Scheißhaus trotz allem eine willkommene Abwechslung. Es war fast hell, aber noch vor Sonnenaufgang. Von dem riesengroßen Acker direkt vor mir jubelten mir ein paar Lerchen zu.
Ich reckte die Arme mit meiner Gitarre in die Luft und lächelte auf die wogende Menschenmenge runter. Alle strahlten mich an, alle waren glücklich, alle brüllten nach mehr. Ich gab ihnen, was sie brauchten. Ich war ihr Idol, ihr Held, ihr Messias.
Ich kotzte ins Gras. In meinem Kopf drehte sich alles, und aus der tobenden Menge waren wieder nur ein paar ahnungslose Lerchen geworden. Es ist total idiotisch, ins Gras zu kotzen, wenn man soeben zahllose Stunden direkt neben einer Kloschüssel verbracht hat, aber so kann’s gehen – das Leben ist kein Wunschkonzert, wie meine Mutter immer sagt.
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75
I mmer noch auf der Jagd nach tauglichen Bildern blättere ich durch eine ältere Ausgabe des Stern – und da starrt Dominik mir entgegen. Diese Aufnahme hatte der Schulfotograf letztes Jahr gemacht, und wie immer sieht Nick darauf kein bisschen freundlich aus. Er guckt abweisend und hat die Lippen ganz fest aufeinandergepresst. Ich könnte das Foto inzwischen aus dem Gedächtnis originalgetreu abzeichnen. Es ist durch die ganze Presse gegangen, wahrscheinlich, weil es Nick so zeigt, wie sich ihn jeder vorgestellt hat.
Mein Herz überschlägt sich beinahe. Ich bin nicht darauf vorbereitet, dieses Bild hier in meiner neuen Schule zu finden. In den letzten Stunden habe ich nicht ein einziges Mal an meinen Bruder gedacht, was ein gutes Zeichen ist, und prompt glotzt er mich jetzt aus diesem verdammten Heft an, das eigentlich nichts weiter sein sollte als Material für den Kunstunterricht. Hastig klappe ich es zu. Den Artikel kenne ich, er geht über vier Seiten. Irgendwo weiter hinten gibt es auch ein kleineres Foto von mir und meiner Mutter.
Ich muss die Zeitschrift verschwinden lassen. Aber wie? Fürs Erste lege ich mal zwei andere Hefte obendrauf. Ein paar Minuten später schiebe ich das Ganze dann unter meine Collage, so als bräuchte ich eine Unterlage. Ich bemühe mich, normal weiterzumachen, über Lunas Witz zu lachen, sorgfältig das Foto von dem Handgelenk mit der Rolex auszuschneiden und den Klebstoff nicht an die Finger zu bekommen, aber in meinem Kopf rauscht und brummt es, als würden da Lkws durchfahren.
E s war eine von den Betonplatten gewesen, mit der Dominik die Tür verkeilt hatte. Da musste er ganz schön gewuchtet haben. Ich hätte das Ding wahrscheinlich nicht mal anheben können. Die beiden Chromringe für das Vorhängeschloss hatte ich tatsächlich aus der Verankerung gesprengt, sie lagen neben dem Klohäuschen. Die Eisenstange steckte noch drin.
Ich torkelte zurück zu der Stelle, wo ich mit Nick gesessen hatte, und hob die Reste von meinem Handy auf. Die zerdrückte SIM-Karte steckte ich mir in die Hosentasche. Vielleicht gab es irgendwelche Experten, die so was wieder hinkriegten. Dann fing ich mit zitternden Fingern an, die kleinen und größeren Plastik- und Metallteile ordentlich nebeneinander auf dem Stapel Betonplatten zu sortieren, als könnte ich auf diese Weise auch wieder Ordnung in mein Gehirn bringen. Bis mir
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