Klassenziel (German Edition)
sanfter Stimme: «Aber irgendwie musst du da ja hingekommen sein.»
«Ja. Mit Nick. Der hat mich gestern bei meiner Freundin abgeholt und da hingefahren. Mit seinem Moped.»
Meine Mutter schlug die Hände vors Gesicht.
«Wann war das ungefähr?», fragte Görlitz.
«Also, abgeholt hat er mich um elf», sagte ich. «Aber was ist denn jetzt mit ihm?»
Wieder trat Stille ein, wieder guckten alle sich gegenseitig an. Eigentlich konnten sie sich die Antwort fast sparen. Bei so einer Reaktion brauchte ich ja wohl kaum damit zu rechnen, dass sie mir sagten: «Ach, dem geht’s gut, der liegt oben im Bett und schläft!» Trotzdem hätte ich gern mal erfahren, was eigentlich passiert war.
Ich versuchte, zu irgendjemandem im Raum Blickkontakt herzustellen, aber alle Augen wichen mir aus. Der Kriminaloberkommissar seufzte, ließ den Kopf hängen und legte mir jetzt tatsächlich die Hand aufs Knie. «Dein Bruder ist tot», sagte er. «Er ist bei einem Polizeieinsatz tödlich verletzt worden.»
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80
W ährend ich über meinem Biologiebuch brüte und mir die Mendel’schen Regeln rausschreibe, um sie mir besser einprägen zu können, ruft meine Mutter an. Ich erzähle ihr von meinem Tag und wie schön es heute war und dass ich mich schon total auf morgen freue, auf mein Picknick und die erste Bandprobe. Kaum habe ich aufgelegt, packen mich plötzlich übelste Zweifel.
Geht das nicht alles viel zu schnell und viel zu glatt? Ich kenne doch die Leute noch gar nicht richtig. Vielleicht sind Kenji und seine Freundinnen völlig durchgeknallt. Ihre Freundlichkeit könnte nur aufgesetzt sein, um mich zu manipulieren und irgendeine ganz üble Nummer mit mir abzuziehen.
Ich komme mir vor wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gepikst hat. Wahrscheinlich bin ich total naiv, dass ich geglaubt habe, ich hätte schon Freunde gefunden. Ich meine, ich bin ein Landei, und das hier ist Berlin! Da gelten doch sowieso ganz andere Regeln! Die machen mir bloß alle was vor, weil sie rausfinden wollen, wie gutgläubig ich bin, und hinter meinem Rücken lachen sie sich über mich schlapp.
Nach dieser neuen Erkenntnis lasse ich noch mal an mir vorbeiziehen, was ich heute so mit anderen geredet und gemacht habe, und plötzlich scheint alles meine Theorie zu beweisen. Zum Beispiel diese auffällige Ermunterung, mich gegen den Deutschlehrer aufzulehnen. Hätte nicht irgendeiner mich warnen sollen? Oder mir empfehlen, mich mal ein bisschen zurückzuhalten? Stattdessen haben sie alle applaudiert, wahrscheinlich, um genüsslich zuzugucken, wie ich mich selbst in die Scheiße reite.
Ich war noch nie in so einer Lage wie jetzt. Ich hatte immer Freunde, ich musste mir keine suchen. Ich war noch nie irgendwo fremd. Überall dort, wo ich hinkam, war Nick schon gewesen oder immer noch da: Elternhaus, Kindergarten, Grundschule, Gymnasium. Ich brauchte bloß seinen Fußstapfen zu folgen und dabei die Fettnäpfchen zu umgehen. Und ich hab mich kein einziges Mal dafür bei ihm bedankt.
I ch starrte ins Leere. Jetzt wäre ich wirklich lieber allein gewesen, diese ganzen fremden Leute um mich rum gingen mir total auf den Zeiger. Aber ehrlich gesagt glaubte ich dem Bullen gar nicht. Der konnte mir viel erzählen. Der kannte Nick doch gar nicht. Wahrscheinlich war irgendein ganz anderer Junge getötet worden, und sie dachten nur, das wäre Nick. Vielleicht sah er so ähnlich aus. «Wie soll das denn passiert sein?», fragte ich. «Was denn überhaupt für ein Polizeieinsatz?» Ich war mir fast sicher, dass die sich alle irrten.
«Bist du heute Morgen in der Schule gewesen, Jamie?», stellte Görlitz mir eine Gegenfrage. In der Schule? Was sollte das denn jetzt?
«Nee, wieso?»
«Dein Bruder war da.»
Natürlich war Nick da, schließlich gehen wir auf dieselbe Schule. Warum sollte er nicht da gewesen sein?
«Er hatte eine Waffe dabei, und er hat mehrere Menschen getötet.»
Ich lachte einmal kurz und ungläubig auf. «Quatsch», sagte ich. Das war für sehr lange Zeit mein letztes Lachen.
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A ls mein Vater von der Arbeit nach Hause kommt, total genervt und schlecht gelaunt wegen dieser Panne mit den Böden und all dem Ärger, den er deswegen hat, vergesse ich meine paranoiden Ideen erst mal wieder. Ich glaube, er hat echt größere Probleme als ich. Oder jedenfalls viel greifbarere. Als Erstes geht er in die Küche und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann sagt er: «Ich hab heute keine Lust,
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