Klassenziel (German Edition)
das einfach so zu schlucken. Dafür hatte ich in den letzten Stunden echt zu viel durchgemacht.
«Wer sind Sie denn überhaupt?», fragte ich, jetzt schon mit viel weniger Gezitter in meiner Stimme. Die Leute wechselten bedeutungsvolle Blicke. So was hat mich immer schon genervt. Wenn andere sich mit Blicken irgendwas sagen, das ich nicht verstehen soll. Das ist doch beleidigend, oder?
«Natürlich, entschuldige», sagte der Typ von der Fensterbank und kam näher, sodass ich sein Gesicht erkennen konnte. Schmal, gerade Nase, graue Augen, kurze dunkelblonde Haare. Er hatte was Asketisches, so wie ein Marathonläufer, und war ungefähr Ende dreißig. «Ich bin Kriminaloberkommissar Sebastian Görlitz vom Landeskriminalamt. Das hier», er wedelte mit der Hand etwas ziellos durch die Gegend, «sind alles Kollegen von mir.»
«Aha. Und was genau wollen Sie hier?» Ich war immer noch in Abwehrhaltung.
«Dazu komme ich gleich. Als Erstes würde ich einfach nur gerne wissen, wo du jetzt gerade herkommst.»
Ich versuchte, meine wirren Gedanken zu sortieren. Gangster waren das ja offensichtlich nicht, die hätten nicht so einen Aufwand betrieben mit Streifenwagen und Uniformen. Also echte Bullen. Und dass es irgendwas mit Dominik zu tun hatte, war wohl klar. Landeskriminalamt? Mannomann. Wie viel Mist kann man bauen, wenn man sich umbringt?! Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg einen Moment lang das Gesicht in den Händen. Dann hob ich den Kopf wieder und atmete ganz tief durch. «Ist Nick tot?», fragte ich.
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79
S elbst das Heimkommen ist nicht mehr so bedrückend wie in den letzten Tagen. Es stört mich nicht mehr allzu sehr, dass niemand hier ist. Mein Vater wird ja bald kommen, und bis dahin hab ich genug zu tun. Als Erstes checke ich die Regalwand im Wohnzimmer auf Kochbücher. Wir haben welche, das weiß ich, aber wo? Nach längerem Suchen entdecke ich drei Stück in Fensternähe, nehme sie aus dem Regal und schlage das erste auf.
Woar, ist das alles kompliziert! Mann, ich will doch bloß irgendeinen Snack zum Mitnehmen machen und kein Fünfgängemenü für eine Hochzeitsgesellschaft! Kochbuch Nummer zwei beschäftigt sich ausschließlich mit Suppen, und das dritte stammt offensichtlich noch aus den Beständen meiner Großeltern. Es ist sogar in dieser altmodischen Schrift gedruckt. Das ist mir zu anstrengend.
Also muss ich eben das Internet bemühen: «snack + mitnehmen + picknick», und schon prasseln die Ideen nur so. Ich entscheide mich für Karotten- und Paprikastreifen mit Kräuterquark-Dip, dafür haben wir nämlich alle Zutaten im Haus, und das schaffe sogar ich. Den Dip rühre ich sofort an und fülle ihn in eine Tupperdose, das Gemüse werde ich morgen früh schneiden, damit es nicht austrocknet – fertig. Befriedigt wende ich mich meinem Hausaufgabenheft zu.
W ieder wechselten alle Anwesenden diese Blicke. Meine Mutter schluchzte erneut laut auf und hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht. Der Derrick-Assi streichelte ihr über den Rücken, guckte dabei aber in meine Richtung. Das konnte ja wohl bloß Uwe sein. Was glotzte der mich so an? War ich jetzt vielleicht schuld, dass Mama heulte? «Was denn?», fauchte ich. «Kann mir mal einer sagen, wo mein Bruder ist?»
«Jamie», sagte Sebastian Görlitz mit sanfter Stimme und hockte sich vor mich hin, als wäre ich ein Fünfjähriger. Hätte mich nicht gewundert, wenn er mein Knie getätschelt hätte. «Beantworte doch erst mal meine Frage, bitte. Wo kommst du her? Das wäre wirklich sehr wichtig für uns.»
Ich guckte rüber zu meiner Mutter, und die nickte unter Tränen. Na gut, meinetwegen. «Tja, also … keinen Plan», sagte ich. Das war jetzt nicht so ein guter Einstieg. Der Kriminaloberkommissar kniff die Augen zusammen und wich ein Stück zurück. Meine Mutter ließ den Kopf hängen und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. Uwe kramte ihr ein neues aus der Packung auf dem Tisch.
«Ja, Scheiße, Mann!», schrie ich. Es machte mich so wütend, dass sie meine dringendste Frage nicht beantworteten, sondern stattdessen irgendwas von mir wissen wollten, das ich ihnen gar nicht sagen konnte. «Ich weiß es eben nicht! Ich war in so einem bescheuerten Dixiklo eingesperrt, die ganze Nacht, und dann hab ich die Tür eingetreten und bin da raus, und dann bin ich zu Fuß nach Hause gelatscht! Keine Ahnung, wo das war! Ziemlich weit weg jedenfalls!»
Görlitz schwieg einen Moment und sagte dann mit unverändert
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