Klassenziel (German Edition)
Außerdem wurde ich immer gereizter, weil dauernd Leute an mir vorbeigingen oder im Haus rumlärmten.
Die benahmen sich echt wie auf einem Kindergeburtstag. Treppe rauf, Treppe runter, Kommunikation nur mit voll aufgedrehter Lautstärke, und sie schleppten alles raus, was sie tragen konnten. Anscheinend gab es nichts, was man dagegen machen konnte, und diese verdammte Ohnmacht steigerte meine Wut.
Zwischendurch hörte ich immer wieder, wie sie meiner Mutter und sogar Uwe irgendwelche Fragen stellten. «Hatte Dominik noch ein zweites Handy?» – «War Ihr Sohn Mitglied in einem Verein?» – «Wissen Sie, ob er eine Freundin hatte?» Dann kam Görlitz auch wieder zu mir. «Wir müssen unbedingt wissen, mit wem dein Bruder Kontakt hatte. Da bist du wahrscheinlich der Einzige, der uns helfen kann.» So was lernten die bestimmt auf der Polizeischule: Gib dem Zeugen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
«Nick hatte keine Freunde. Außer Marek. Aber der wohnt nicht mehr hier.»
«Marek? Und wie weiter?»
«Keine Ahnung.»
«Und wo wohnt dieser Marek jetzt?»
«Äh … Chemnitz, glaub ich. Oder – nee, Dresden. Obwohl … äh …»
«Wo hat er denn vorher gewohnt?»
«Weiß ich nicht.»
Na ja, ich gebe zu: Besonders hilfreich war ich wohl nicht.
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87
B ecky, Kenji und Luna warten im Flur auf mich und strahlen mir erwartungsvoll entgegen. Als würde jemand mein Herz in eine Kuscheldecke hüllen. Wieder gehen wir zu der kleinen Grünanlage, und schon auf dem Weg dorthin kommt das Gespräch auf Jacqueline.
Becky gesteht, dass sie sich mal mit ihr geprügelt hat, nach dem Sport in der Umkleide. «Die hat mich so provoziert, da sind mir echt die Sicherungen durchgebrannt!» Ich frage, wie groß der Schaden war. «Na ja, ich hatte hinterher so ein paar fiese Kratzer am Hals. Und ihr sind drei Nägel abgebrochen.» Gelächter. «Außerdem hab ich der blöden Kuh ein ganzes Büschel Haare ausgerissen. Das ist nämlich ihr Schwachpunkt. Hast du gesehen, was für dünne Fusselhaare die hat? Da brauchst du nur einmal reinzugreifen, und du hast den halben Skalp in der Hand.»
Ich stelle mir die Szene vor und muss lachen, obwohl es eigentlich ja eher eine traurige Angelegenheit ist, wenn Mädchen sich prügeln. «Wenn die mich mal ins Visier nimmt, seh ich einfach zu, dass ich so schnell wie möglich wegrenne», erklärt Kenji. Ich mag das total, wie er sich über seine Winzigkeit lustig macht. Jeder andere hätte deswegen wahrscheinlich tierische Komplexe, und er kokettiert damit, als wäre er stolz darauf. Ich glaube, er ist stolz darauf. Und warum eigentlich nicht? Groß und hässlich sein kann jeder. Klein und dabei so umwerfend hübsch ist bloß er.
Meine Möhren- und Paprikastreifen kommen echt gut an; es bleibt fast nichts davon übrig. Dafür kann ich nicht genug kriegen von Lunas gefüllten Teigtaschen. Kenji ist Vegetarier. Er sagt, in seiner Familie wird überhaupt kein Fleisch gegessen, dafür aber viel Fisch.
Neugierig frage ich nach und kriege raus, dass sein Vater vor zwanzig Jahren aus Japan hierhergekommen ist und eine deutsche Frau geheiratet hat. Er ist Soziologe und arbeitet an der Freien Universität. Kenji wurde in Berlin geboren, aber er spricht auch etwas Japanisch, für den Hausgebrauch, wie er sagt. Seit seinem sechsten Lebensjahr macht er Aikido. «Dann könntest du Jacqueline doch plattmachen, statt vor ihr wegzurennen», finde ich.
«Nicht plattmachen. Aber ausschalten», antwortet er weise wie ein alter Zen-Meister.
A uf einmal stand ein ganzes Fernsehteam in unserem Wohnzimmer. Überall auf ihrem Equipment war das SUPER-TV-Logo drauf. «Wer sind denn jetzt genau die Angehörigen?», fragte eine Frau im hellgrauen Hosenanzug. Und als meine Mutter ihr mit unsicheren Schritten entgegenkam, zeigte sie auf Uwe, der sich im Hintergrund hielt: «Können wir auch mit Ihrem Mann sprechen?»
Was ging denn da ab? Ich sprang von der Couch hoch. «Das ist nicht ihr Mann. Wollen Sie jetzt hier drin filmen oder was?»
«Und du bist der Bruder? Warst du auch in der Schule? Kannst du mal schildern, was du da gesehen hast?»
«Äh, Moment mal …», sagte meine Mutter.
Vor meinen Augen begann es, rot zu flimmern. «Ja, sicher. Ich kann’s auch noch mal nachstellen. Soll ich?»
Die Frau im Hosenanzug wandte sich rasch von mir ab und präsentierte meiner Mutter ein falsches Lächeln. «Ich bin Bettina Schierke von SUPER-TV-News. Wir würden Ihnen gern ein paar kurze
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