Klassenziel (German Edition)
Tisches. Verstohlen holt Maxi ein Heft hervor und fängt an, alles abzupinnen.
K aum war Görlitz abgewackelt, kam meine Mutter rein. «Schatz, komm doch mal ins Wohnzimmer.» Sie sah immer noch so wachsmäßig aus, bis auf ihre rotgeheulten Augen.
An dem Fenster, wo vorhin Görlitz gestanden hatte, wartete jetzt Uwe. Och nee! Das war doch nicht ihr Ernst, oder? «Ich wollte ja eigentlich, dass ihr euch schon viel früher kennenlernt», sagte meine Mutter. «Und vor allen Dingen nicht so … unter solchen …»
«Ich bin der Uwe», übernahm ihr Lover. «Sträterhoff.» Er streckte mir die Pranke hin. «Hab schon viel von dir gehört.»
O ja, da war ich mir sicher. Zurückhaltend schüttelte ich ihm die Hand. Was sollte ich jetzt sagen? «Sehr erfreut»? War ich echt nicht. Ich sagte einfach gar nichts.
«Ich weiß, das ist für dich jetzt … Aber irgendwann müsst ihr euch ja so oder so mal …» Anscheinend hatte meine Mutter vergessen, wie man Sätze zu Ende bringt.
«Hast du Papa schon angerufen? Kommt er her?», fragte ich sie. Und es war mir völlig egal, dass die Frage in diesem Moment möglicherweise taktlos war.
Uwe machte auf mich keinen besonderen Eindruck. Ich verglich ihn natürlich direkt mit meinem Vater und versuchte mir vorzustellen, was meine Mutter an ihm so toll fand, dass sie dafür ihre Ehe über die Wupper gehen ließ. Aber die beiden hatten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Na ja, vielleicht war das ja auch der Grund, was weiß ich. Jedenfalls war Uwe eigentlich nichtssagend. Typ Versicherungsvertreter. Jemand, der alte Omas um den Finger wickeln kann, aber nicht übermäßig viel zwischen den Ohren hat.
Schon möglich, dass ich nicht objektiv war. Kann ja auch keiner von mir verlangen. Dieses Arschloch hatte meinen Vater verjagt! Ich dachte an Papa und sein Haus mit diesen ganzen Vergangenheitstrümmern drin. Ich dachte an das Sheepworld-Kissen im Gästezimmer. Und dieser Gedanke war der totale Tritt in die Eier, denn mir wurde plötzlich klar, dass mein Vater jetzt noch einen Schlag einstecken musste, noch heftiger als alles, was sowieso schon passiert war. Mir wurde schon wieder schwarz vor den Augen. Ich konnte mich gerade noch so in einen Sessel fallen lassen.
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86
A ls es zur kleinen Pause klingelt, gibt Maxi mir mein Heft zurück. «Danke, Mann! Das hatte ich echt total vergessen! Übrigens, wenn du dir Essensmarken kaufen willst – die kannst du dir jetzt unten in der Mensa holen. Ich geh auch runter. Kommst du mit?» Und ich bin ihm dankbar, dass er sich um mich kümmert, weil ich mich nach wie vor etwas fremd fühle.
Wie hätte Nick wohl so eine Situation bewältigt? Was hätte er gemacht als Neuer in einer neuen Klasse, noch dazu im bereits angelaufenen Schuljahr? Und als Zugezogener in einer Stadt, die so verwirrend groß und unübersichtlich ist, dass man sich total verloren darin fühlt?
Nick war sicher nicht so freundlich und nett wie ich meistens, aber wer weiß, vielleicht hätte er andere Strategien gehabt. Möglicherweise sogar erfolgreiche. Einen Moment lang denke ich darüber nach, ob es ihm vielleicht geholfen hätte, wenn man ihn einfach von der Schule genommen und ganz woandershin verfrachtet hätte. Wer weiß, ob das die Chance gewesen wäre, die ihm gefehlt hat.
Ich stelle mir vor, er würde jetzt an meiner Stelle zum Englischunterricht hochgehen. Mit wem aus dieser Klasse würde er sich wohl als Erstes zusammenschließen? Ein selbsternannter Witzbold wie Giovanni wäre ihm zuwider. Mit einer Sportskanone wie Justus könnte er nichts anfangen. Schräge Vögel wie Kenji, Becky und Luna würde er verachten. Maxi wäre ihm wahrscheinlich zu langweilig. Obwohl … sein eigenes Leben war ja auch nicht viel spannender. Er könnte Maxi in die Welt der Ego-Shooter einführen, und Maxi würde ihm dafür zeigen, wo es in der Stadt die besten Brathähnchen gibt …
Ich träume noch ein bisschen weiter vor mich hin, bis mir bewusst wird, dass der Englischunterricht längst angefangen hat und die Kesselmann mich gerade zum zweiten Mal bittet, meine Hausaufgaben vorzulesen. Und ich hab noch nicht mal meinen Block rausgeholt. Mist.
M eine Mutter hatte mich überredet, mich ein bisschen auf die Couch zu legen. Eigentlich hatte sie ja recht. Mein ganzer Körper schrie: «Schlaf! Schlaf!», aber es klappte trotzdem nicht. Ich lag da und hörte meinen eigenen Gedanken zu, die genau wie Mamas Sätze alle mittendrin aufhörten.
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