Klassenziel (German Edition)
sofort zu. Er trug Jeans und ein schwarzes Hemd und sah irgendwie gefährlich aus, aber auf eine interessante Art. «Ich hab ein paar Fragen», sagte ich schüchtern.
«Warte kurz.» Er gab noch irgendeine Anweisung, dann legte er mir die Hand auf die Schulter und führte mich wieder nach drinnen. «Im Moment solltest du das Haus nicht verlassen. Und wir zwei suchen uns jetzt ein ruhiges Fleckchen zum Reden.»
Das Haus nicht verlassen, aha. Ich hatte also nicht nur Zutrittsverbot zu meinem eigenen Zimmer, sondern auch noch Hausarrest. Wenn die so mit völlig unschuldigen Leuten umgehen – was machen die dann eigentlich mit denen, die wirklich kriminell sind? Und das mit dem ruhigen Fleckchen war auch nur Gelaber. Wir gingen in den Wintergarten, wo schon zwei Leute mit Laptops am Tisch saßen. «Okay, schieß los», sagte Görlitz. Ich starrte ihn einen Moment lang an, bis ein schiefes Grinsen auf seinem Gesicht erschien. «Na gut, falsche Wortwahl», gab er zu.
«Ich würd jetzt gern mal genau wissen, was passiert ist. Sie haben gesagt, mein Bruder war in der Schule und hat mehrere Leute umgebracht. Aber das ist doch bestimmt … ich meine … das könnte ja auch ein Irrtum sein, oder?»
Görlitz seufzte. «Ich fürchte nein. Dein Bruder hat eine geladene Waffe mit in die Schule gebracht, ein russisches Schnellfeuergewehr. Er hat offensichtlich damit um sich geschossen. Wir wissen noch nicht genau, was im Einzelnen abgelaufen ist, aber es gab … ziemlich viele Tote. Und mehrere Menschen sind im Krankenhaus. Ein paar davon schweben in Lebensgefahr.»
Ich brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. «Hat er … Lehrer? Oder Schüler?»
«Anscheinend beides.»
Das war doch alles völlig abgedreht. Mein Bruder war doch kein Amokläufer! Ich konnte Görlitz nicht ansehen. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich hingucken sollte. Die beiden Typen beugten sich total angestrengt über ihre Laptops und taten so, als wären sie taub.
«Und dann? Ich meine, jemand anders … hat Nick dann erschossen?»
«Ja, er wurde von einem Kollegen tödlich getroffen. Du kennst das ja wahrscheinlich aus dem Fernsehen. Er wird aufgefordert, die Waffe hinzulegen und sich zu ergeben, aber das hat er nicht gemacht. Er hat auf die Kollegen gezielt. Und einer hat daraufhin geschossen.»
«Muss man da denn nicht erst mal auf die Beine …?»
«Natürlich.»
Ich lasse das kurz auf mich wirken und frage dann: «Wo ist Nick denn jetzt?»
«In der Gerichtsmedizin. Da, wo auch die anderen alle sind.»
«Kann ich ihn denn sehen?»
Görlitz schüttelte den Kopf.
«Aber dann können Sie ja gar nicht wissen, dass er das ist!» Ich klammerte mich immer noch an diese letzte Hoffnung, dass das Ganze eine Verwechslung sein könnte.
«Jamie», sagte Görlitz mitleidig. «Er hatte seinen Führerschein und seinen Ausweis dabei. Sein Handy. Seine Schlüssel. Und wir haben inzwischen auch Fotos von ihm gesehen. Es tut mir wirklich leid, aber – er ist es, ganz sicher.»
Ein bärtiger Polizist in Uniform kam in den Wintergarten. «Herr Görlitz, können Sie mal kurz kommen?»
«Ich hab noch eine Frage», sagte ich schnell. Görlitz nickte und guckte mich aufmerksam an.
«Wissen Sie schon, wer … wer noch alles …?»
Görlitz hob die Schultern. «Wir haben noch keine Namen zu allen. Du kannst dir das ja sicher vorstellen. Schüler tragen normalerweise keine Personaldokumente bei sich, und die meisten hatten ja heute nicht mal ihre Schultaschen mit.»
«Aber bei den Namen, die Sie schon haben», hakte ich nach, «ist da eine Melody Kisters dabei?»
Der Kriminaloberkommissar biss sich auf die Unterlippe. «Ich kann dir dazu noch gar nichts sagen, Jamie.»
Ein besonders guter Lügner war er nicht.
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E hrlich gesagt: Ich bin erleichtert, als die Chemiestunde vorbei ist. Diese Jacqueline ist doch eine tickende Bombe! Die hat doch offensichtlich einen an der Waffel! Darüber grüble ich nach, während ich auf die Kamelhöcker von Frau Warwitzki glotze. Ich sollte rausfinden, ob Jacqueline schon mal wegen Gewalttätigkeit aufgefallen ist. Und das Beste wäre wohl, wenn ich mir in Chemie einen anderen Platz suche. Ich fürchte nur, dass keiner mit mir tauschen will.
Maxi schiebt mir einen Zettel rüber. «Hast du Englisch gemacht?» Ich nicke ihm zu. Er nimmt den Zettel und kritzelt: «Kann ich von dir abschreiben?» Ich hole meinen Block raus, klappe die entsprechende Seite auf und lege ihn in die Mitte des
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