Klassenziel (German Edition)
wie positive Schwingungen. Zum Beweis dafür, dass mein Umzug ausschließlich meinem Lerneifer geschuldet ist, melde ich mich ganz oft. Und ich gebe keine einzige falsche Antwort.
G egen Abend wurden im Fernsehen die ersten Bilder von unserem Haus gezeigt, zuerst verwackelte Aufnahmen von Handys, später dann die Profiversionen. Kurz darauf konnte ich auch meine Mutter und mich selbst auf dem Bildschirm sehen. So hatte ich mir das Berühmtsein echt nicht vorgestellt. Der Anblick regte mich so auf, dass ich am liebsten gekotzt hätte, wenn mir das physisch noch möglich gewesen wäre.
Inzwischen wurde es draußen vor unserem Haus immer unruhiger. Das waren jetzt nicht mehr nur Polizisten, sondern auch Nachbarn, Mitbürger, was weiß ich. Eigentlich ganz normale Leute, nur dass sie plötzlich ihren Hass auf uns entdeckt hatten. Ich weiß nicht genau wieso, aber anscheinend war alles, was irgendwie mit Dominik zu tun gehabt hatte, so eine Art Ausgeburt der Hölle.
Manche brüllten rum: «Mörderbande!» Oder: «Verdammter Kindermörder!» Oder einfach: «Kommt raus, ihr feigen Schweine!» Einige versuchten, irgendwas zu demolieren, zum Beispiel unseren Gartenzaun. Mehrere schmissen Gegenstände gegen unsere Fensterscheiben: Eier, Farbbeutel, aber auch Steine. Natürlich stand draußen die Polizei, und es wurde sofort eingegriffen. Aber die Menge von wütenden Leuten wurde immer größer.
Görlitz kam rein und guckte besorgt. «Können Sie bei Bekannten unterkommen? Ich würde Sie gern von hier wegbringen.» Er ließ seinen Blick von meiner Mutter zu Uwe rüberwandern. «Vielleicht bei Ihrem Lebensgefährten?»
«Ich wohne momentan bei meiner Mutter», erklärte Uwe zerknirscht. «Tut mir leid.» Ich riss die Augen auf. Hey, der Mann war über vierzig! Wie krass war das denn!
Selbst Görlitz stutzte kurz. «Vielleicht sonst bei jemandem?», bohrte er dann weiter. Meine Mutter und ich grübelten beide nach. Ich hätte natürlich zu Till oder zu Ramon gehen können. Aber ich wollte meine Mutter nicht allein lassen. Und außerdem – bei dem Gedanken stieg eine Hitzewelle in mir hoch – wusste ich gar nicht, ob die beiden überhaupt noch lebten.
«Sind Sie einverstanden, wenn ich Ihnen ein Hotelzimmer besorge?», fragte Görlitz. «Sie sehen ja selbst, was da draußen los ist. Das wird sich natürlich auch wieder beruhigen, aber zwei, drei Tage lang wäre es sicher besser, wenn Sie hier wegkommen. Außerdem ist die Spurensicherung noch nicht fertig.»
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N ach Schulschluss rede ich mit Maxi und erkläre ihm, dass mein Platzwechsel nichts mit ihm zu tun hat. Er tut sehr unbeteiligt und sagt nur, das wäre schließlich meine Entscheidung. Danach stehe ich noch ein paar Minuten mit Becky, Kenji und Luna draußen vor dem Hoftor. Wir umarmen uns zum Abschied – eine neue Stufe der Vertrautheit. Ich gehe mit einem blödsinnigen Lächeln nach Hause und spüre gar nicht den Asphalt unter meinen Füßen. Dabei ist mir bewusst, dass das Beste und Aufregendste ja erst noch kommt, nämlich die Bandprobe heute Nachmittag.
Ich kippe eine halbe Flasche Mineralwasser in mich rein. Zum Essen bin ich viel zu nervös. Für Hausaufgaben ebenfalls – die kann ich am Wochenende erledigen. Lieber hole ich endlich mal meine Gitarre aus dem Koffer. Bisher hatte ich dafür irgendwie nicht die richtige innere Einstellung. Jetzt pelle ich das Instrument vorsichtig, aber ungeduldig aus seiner Hülle wie ein superschönes Mädchen aus seinen Klamotten. Und die ersten Akkorde, die ich anschlage, sind wie zärtliche Küsse.
D as einzig Positive, was an diesem Tag noch passierte, war, dass mein Vater kam. Meine Mutter hatte ihn gleich morgens angerufen, und er hatte sich sofort ins Auto gesetzt. Als er reinkam, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Sein Hemd war verschwitzt und zerknittert und hing halb aus der Hose raus, seine Haare standen ab, er war nicht rasiert und hatte rote Augen wie ein Kaninchen.
Ich war der Erste, der ihn überhaupt bemerkte, und hing ihm immer noch am Hals, als er meine Mutter begrüßte – und Uwe. Zum Glück hatte der für diesen Anlass mal den Arm von ihren Schultern runtergenommen. Danach drückte mein Vater mich wieder ganz fest an sich und schluchzte in meine Haare rein, und ich konnte mich an seine Brust lehnen und die Augen zumachen und meine Tränen einfach laufen lassen.
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A ls ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es höchste Zeit zu gehen.
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