Klassenziel (German Edition)
Fragen stellen. Ist das okay für Sie?»
«Seid ihr bescheuert? Raus hier!», brüllte ich. Ich wusste ja nicht, dass die Kamera schon lief.
Genützt hat mir mein Anfall sowieso nichts. Den ganzen Nachmittag über kamen Leute vom Fernsehen, vom Radio und von den Zeitungen. Manchmal waren drei, vier Teams gleichzeitig da. Wir hätten sie nicht reinlassen müssen, aber Uwe meinte, das würde alles nur noch schlimmer machen. Noch schlimmer? Wie konnte denn irgendwas noch schlimmer werden? Und was hatte dieser Vollhorst hier überhaupt zu melden?
Die ersten Pressefuzzis beschimpfte ich noch. Später pegelte ich mich ein bisschen runter und redete entweder gar nicht mit denen, oder ich gab total unsinnige Antworten, sagte einfach irgendwas, das mir gerade durch den Kopf ging und das nichts mit ihren Fragen zu tun hatte. Damit konnte ich sie sozusagen aus der Realität ausblenden. Sie werden sich wohl gefragt haben, ob ich genauso durchgedreht war wie mein Bruder.
Ich schämte mich unterirdisch für meine Mutter, die jedes Mal dieselben dreisten Fragen beantwortete und dauernd vor der Kamera losheulte. Es war so schrecklich, ihr dabei zugucken zu müssen. Auf der einen Seite tat sie mir voll leid, aber eigentlich war sie ja selbst schuld, dass sie sich auf so was einließ.
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88
A ls wir zur Schule zurückkehren, bin ich nicht nur pappsatt von dem leckeren Essen, sondern auch komplett gesättigt mit interessanten Infos. Beispielsweise dass Meret, die Nummer vier in Kenjis Clique, nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus liegt. Oder dass Lunas Mutter ein Gartengrundstück mit einem kleinen Häuschen hat, um das Luna sich praktisch alleine kümmert und wo sie demnächst ihren Geburtstag feiern will. «Merkt euch schon mal den sechsten Oktober vor», sagt sie. Es steht außer Frage, dass sie damit auch mich meint.
Aufschlussreich finde ich auch Beckys Begründung, warum die Freunde nicht so gern in der Mensa essen. «Also, erst mal gibt’s da meistens nur irgendwelche Sattmacher mit ganz viel Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern», behauptet sie. «Und außerdem sind wir da gemobbt worden.»
«Hä? Wie denn?»
«Na ja, wir haben irgendwie so einen Ruf an der Schule – keine Ahnung. Jedenfalls, wenn wir da zusammen hingehen, heißt es immer: Guck mal, da kommen die Essgestörten.»
Es gibt überhaupt keinen Grund für so einen bescheuerten Spruch. Luna ist dünn, Becky ist kräftig und Kenji ist klein – na und? Als ob das was mit dem Essverhalten zu tun hätte! Aber natürlich braucht man keine objektiven Belege, wenn man andere fertigmachen will. Da genügt es, wenn einer mal einen dummen Spruch lässt, und alle übrigen Idioten ziehen dann nach.
«Okay», sage ich entschlossen. «Dann will ich ab sofort auch essgestört sein.» Wir kichern und gackern genau so, wie die anderen noch vor wenigen Tagen ohne mich gekichert haben. Damals fand ich es ein bisschen albern. Jetzt bin ich stolz, dass ich dazugehöre.
I ch schaltete den Fernseher ein und guckte mir alle möglichen Nachrichtensendungen an, aber ohne Ton. Die Bilder waren fast immer dieselben: meine Schule von außen, Krankenwagen und Polizeiautos auf dem Schulhof. Rennende Sanitäter. Ein Polizeisprecher in Uniform. Das Gymnasium von innen, ein Flur, Blutspritzer an den Wänden. Eine Luftaufnahme von Viersen. Ein Maschinengewehr vor neutral-grauem Hintergrund. Erst das Allgemeine Krankenhaus von außen, dann ein Arzt mit ernster Miene.
Irgendwann setzte sich eine Frau neben mich, die ich noch nie gesehen hatte. Ich zuckte zurück. Bloß nicht schon wieder so eine Pressetante! «Hallo, Jamie», sagte sie. «Monika Gerritzen. Ich bin Psychologin.» Mittlerweile war ich zu abgefiedelt, um mich an meine gute Erziehung zu erinnern. Ich guckte einfach wieder nach vorn auf den Bildschirm, wo gerade zum hundertsten Mal dieses Maschinengewehr-Katalogfoto gezeigt wurde.
«Wenn du reden willst – oder Dampf ablassen –, ich bin da. Kannst mich jederzeit ansprechen», sagte die Frau und ging dann rüber zu meiner Mutter.
Ich fand es gut, dass sie mir erst mal nur ein Angebot gemacht und mich nicht zugeföhnt hatte. Von meinem Platz aus konnte ich sie unbemerkt taxieren. Mitte vierzig, lange dunkle Haare, rotes Hemd, Jeans, flache Schuhe. Sie hatte eine Kette aus dicken, knallbunten Glasperlen um den Hals. Kein Make-up, soweit ich das beurteilen konnte. Irgendwas Ruhiges, Überlegenes ging von ihr aus, als ob sie jeden Tag mit den
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