Klassenziel (German Edition)
drifte zwischendurch immer wieder weg in so eine Art Halbwachträume, aus denen ich dann erschrocken hochzucke.
«Iss jetzt endlich dein Brötchen!», drängt mein Vater. «Komm bloß nicht auf die Idee, ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen! Ohne Schlaf ist schon schlimm genug!»
«Ich hab doch geschlafen», murmele ich schwach.
«Wenn ich dich noch mal mitten in der Nacht beim Musikhören erwische, kannst du das mit der Band vergessen. Die Schule steht an oberster Stelle, und alles andere ist nur Hobby, verstanden?»
Ich werde um ein paar Grad wacher. Mein Vater ist nur selten so, aber wenn, dann meint er es ernst. Und ich brauche in nächster Zeit noch eine Menge Toleranz von ihm – zum Beispiel wenn er erfährt, dass unser Auftritt erst um Mitternacht stattfinden soll, was möglicherweise bedeutet, dass er mitkommen muss –, also ist es auf jeden Fall besser, wenn ich jetzt ganz kleine Brötchen backe und das auf meinem Teller endlich esse.
A m nächsten Wochenende fuhren wir nach Stuttgart, Häuser angucken. Wir trafen uns mit einem Makler, der uns in seinem spiegelblanken SUV durch die Gegend fuhr und uns das zeigte, was er «Objekte» nannte. Ich zockelte mit etwas Abstand hinter den Erwachsenen her und versuchte, mir meine Genervtheit nicht zu sehr anmerken zu lassen. Klar, die waren ganz nett, die Objekte – aber ich wusste echt nicht, was ich da sollte.
Der Makler hatte offensichtlich im letzten Verkaufsseminar gelernt, dass man grundsätzlich alle Beteiligten mit einbeziehen soll, und textete mich zu. «So ein Zimmer, mit so einer Aussicht, und noch dazu mit einem eigenen Bad und Balkon, das dürfte wohl keiner deiner Klassenkameraden haben.» – «Na, ist das ein Partykeller? Da kannst du die halbe Schule einladen, und er ist immer noch nicht voll.» – «Du interessierst dich doch bestimmt für Fußball, oder? Von hier aus kannst du zu Fuß zur Mercedes-Benz-Arena gehen.» Ich hörte mir das Gelaber zwar höflich an, sagte aber kein Wort, und beim vierten Objekt hatte er es dann auch gepeilt und ließ mich einfach in Ruhe.
[zur Inhaltsübersicht]
113
I ch weiß noch, wie nervös ich war, als ich diesen Weg zum ersten Mal gegangen bin. Wie fremd mir alles vorkam. Was für eine Angst ich hatte, dass ich zu spät komme und dann den Klassenraum nicht finde. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich neben dem Ullrich vor dreißig wildfremden Leuten stand und dachte: Das pack ich nie. Bis ich die überhaupt auseinanderhalten kann, vergehen Monate.
Aber es kommt mir vor, als wäre das Ewigkeiten her. Als würde ich mich an irgendwas aus meiner Kindheit erinnern oder sogar aus einem früheren Leben. Heute bin ich überhaupt nicht nervös, während ich zur Schule gehe. Im Gegenteil: Ich freu mich auf Luna, Becky und Kenji, auf meinen neuen Platz in der zweiten Reihe, sogar auf den Unterricht. Und das, obwohl das Wetter heute ziemlich trüb ist und die Müdigkeit mein Gehirn in Bastelwatte verwandelt hat.
N ach den Besichtigungen zeigte Uwe uns noch die Klinik, in der er arbeiten würde, und dann lud er uns zum Essen ein. Er und meine Mutter waren ganz aufgedreht, fanden die Stadt «zauberhaft» und die Leute «unglaublich freundlich», man merkte richtig, wie sie in Gedanken schon die Umzugskartons packten. Sie wollten überzeugt werden. Alles hätte sie jetzt in Begeisterung versetzt, weil sie eigentlich längst ihre Entscheidung getroffen hatten und bloß noch ein paar zusätzliche Bestätigungen suchten. Ich will ja nicht behaupten, dass mir so was nicht auch schon mal passiert wäre. Aber trotzdem war ich davon extrem angenervt.
Manchmal weiß man ganz genau, was in einem selbst so abgeht, aber man kann trotzdem seine Gefühle nicht steuern. So war das auch an dem Abend in Stuttgart. Einesteils konnte ich mich wie durch eine Webcam von außen beobachten und sah einen frustrierten, bockigen, schmollenden Teenager, der sich ziemlich scheiße benahm.
Andererseits steckte ich aber in genau diesem Teenager drin und machte Sachen, die ich eigentlich gar nicht machen wollte. Zum Beispiel lustlos im Essen rumstochern, obwohl das gar nicht so schlecht war. Oder während der Mahlzeit plötzlich aufs Klo verschwinden und eine Viertelstunde wegbleiben. Oder nicht reagieren, wenn ich angesprochen wurde, und so tun, als hätte ich was an den Ohren.
Uwe rastete irgendwann total aus und schrie mich an, ich wäre ja undankbar und verstockt und würde mich wohl für den Mittelpunkt der Welt halten
Weitere Kostenlose Bücher