Klassenziel (German Edition)
Normalerweise fällt es mir nicht allzu schwer, nach Gehör zu spielen. Mein Musikschullehrer hat immer gesagt, ich hätte ein gutes musikalisches Gedächtnis. Allerdings machen die Cosmic Shocks nicht gerade Kinderlieder. Diese Songs sind schon ganz schön anspruchsvoll, und ich muss mich auf jeden einzelnen Ton konzentrieren. Wie soll ich überhaupt vorgehen? Soll ich mir jedes Stück einzeln erarbeiten, bis es perfekt sitzt? Oder erst mal alle anhören, um einen Überblick zu kriegen? Ich starre verzweifelt auf meinen Bildschirm, als ob der mir irgendeinen Rat geben könnte.
A m selben Abend stand ich bei Kisters vor der Haustür. Ich hatte einen Blumenstrauß dabei. Hatte meine Mutter mir empfohlen. Offenbar ein guter Tipp, denn Stefanie Kisters guckte ganz gerührt, als ich ihn ihr entgegenstreckte. Ich hatte auch vorher das Papier abgemacht, ebenfalls auf Anraten meiner Mutter. Manchmal sind Eltern echt zu was nutze.
Im Wohnzimmer der Kisters hing ein Regal, das sie zu einem Melody-Schrein gemacht hatten. Mit gerahmten Fotos, Kerzen, einer kleinen Blumenvase und einem total durchgeschabten Stoffhund. Außerdem stand da ein halbvolles Fläschchen Parfüm. Ich nahm es in die Hand und schnupperte an dem Zerstäuber, und das war, als würde Melody plötzlich neben mir stehen. Als sie noch lebte, war mir nicht mal aufgefallen, dass sie Parfüm benutzte. Ich stellte die Flasche ganz schnell wieder hin und schluckte alles runter, was in meiner Kehle nach oben wollte.
Ich setzte mich ihren Eltern gegenüber auf die graue Ledercouch. Am Anfang waren wir alle drei total befangen. Keiner wusste so richtig, wie er das Gespräch in Gang bringen sollte. Melodys Mutter sprang wieder auf, um was zu trinken und zu knabbern zu holen. Ihr Vater guckte an mir vorbei und räusperte sich andauernd. Aber das wurde dann nach und nach besser.
«Ich fand Melody schon ganz lange total nett», erzählte ich. «Eigentlich von Anfang an. Aber so richtig geprickelt hat das erst, als wir uns zufällig im Kino getroffen haben.»
«Das war doch kein Zufall», sagte ihre Mutter verwundert.
«Hä? Doch, na klar», sagte ich, genauso erstaunt.
«Aber Melly hatte doch … Sie hat mir erzählt, dass sie das mit dem Kino bei Facebook gelesen hatte. Deshalb wollte sie doch an dem Abend dahin. Um dich da zu treffen.»
Ich war platt. Davon hatte sie mir gar nichts erzählt. Sofort kam die ganze brutale Traurigkeit wieder hoch, weil ich merkte, dass mein Verlust noch viel größer war, als ich geahnt hatte.
«Du bist praktisch der Letzte, der mit ihr gesprochen hat», sagte ihr Vater. «Du warst doch abends bei ihr. Als du weg warst, ist sie direkt ins Bett gegangen. Und am nächsten Morgen hab ich sie nur ganz kurz gesehen, vor der Schule. Sie war viel zu spät dran. Wollte kein Frühstück.» Er presste die Zähne aufeinander und guckte zum Fenster raus.
«Und ich war schon weg, zur Arbeit», sagte Stefanie Kisters leise. «Ich hab sie gar nicht mehr gesehen.»
«Scheiße, Mann», flüsterte ich und schob sofort hinterher: «Entschuldigung.»
«Schon gut. Du hast ja recht.»
«Hat dein Bruder gar nicht gewusst, dass Melody deine Freundin war?», fragte mich ihr Vater.
«Doch.»
Die beiden guckten mich mitleidig an.
«Aber das war nicht … Ich meine, er hat doch auch ganz viele andere aus meiner Klasse …» Keine Ahnung, wie ich das formulieren sollte. Sie wussten aber auch so, was ich sagen wollte.
Es gab einige Momente an dem Abend, wo uns allen dreien das Wasser in den Augen stand. Aber das war irgendwie okay. Wir hatten Melody ja alle geliebt, wenn auch aus verschiedenen Richtungen sozusagen. Als ich ging, sagte ihre Mutter zu mir: «Ihr wärt so ein süßes Pärchen gewesen.» Dann umarmte sie mich kurz und unbeholfen.
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112
M ein Vater drückt mir einen gefüllten Kaffeebecher in die Hand. «Hör mal, so geht das aber nicht», sagt er. «Du brauchst deinen Schlaf.»
Letzte Nacht habe ich bis kurz nach drei Cosmic Shocks gehört – zwar mit Kopfhörer, aber mein Vater hat wohl trotzdem was gemerkt, jedenfalls kam er in mein Zimmer, selbst total verschlafen, und hat gesagt, ich soll sofort den Computer runterfahren und ins Bett gehen. Da hab ich erst mitgekriegt, wie spät es schon war.
Ich wünsche mir irgendeine Vorrichtung, die meine Augenlider offen hält, und nach Möglichkeit noch einen Apparat, der meine Arme und Beine bewegt. Teilnahmslos schütte ich drei Tassen Kaffee in mich rein und
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