Klassenziel (German Edition)
Tellern und Besteck.
A uf der Heimfahrt im Auto hatte ich dann zum ersten Mal so eine Art Anfall. Mir wurde auf einmal total schwindlig und schlecht und schwarz vor Augen. Uwe quatschte die ganze Zeit über seine neue Arbeit in Stuttgart und welche Promis schon in dieser Klinik gewesen wären und was für einen tollen Ruf die hätte. Und außerdem könnte er meiner Mutter einen Job in der Württembergischen Landesbibliothek besorgen, er würde da jemanden kennen. Währenddessen hing ich hinten total fertig in meinem Sitz, schweißnass und halb bewusstlos, aber das kriegte keiner mit.
Am nächsten Tag passierte dasselbe noch mal. Da kam ich gerade mit dem Fahrrad vom Friedhof zurück. Ich hatte an einer Ampel angehalten, und als die wieder grün wurde, wollte ich weiterfahren, aber das ging einfach nicht. Ich fing vor Schwäche an zu zittern, wurde wieder halb ohnmächtig, schwitzte wie blöde und kippte schließlich um, zusammen mit meinem Rad.
Irgendein Autofahrer hielt an, stieg aus und wollte mir wohl aufhelfen, aber bis dahin hatte ich mich wieder im Griff und kam von selbst auf die Beine. Ich brabbelte irgendwas von «Danke, geht schon» und radelte weiter, so dynamisch wie ein querschnittgelähmter Weltkriegsveteran.
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A ls wir im Gänsemarsch die Mensa verlassen, kriege ich auch die Blicke mit, die uns folgen. Und ich denke, ich habe jetzt wirklich ganz genau verstanden, warum Luna, Kenji und Becky nicht gerne hier zu Mittag essen. Wir gehen zurück in den Klassenraum, obwohl die Pause noch nicht ganz vorüber ist. Da ist es wenigstens einigermaßen ruhig. Elwira sitzt allein an ihrem Platz und schreibt, Zoey und Ann-Kathrin unterhalten sich, und sonst ist noch keiner hier.
Noch vor ein paar Monaten wäre so eine Situation für mich nichts Besonderes gewesen. Die Mittagspause ist fast vorbei, man sitzt im Klassenraum und führt ein träges Gespräch, weil der größte Teil des Körpers mit der Verdauung beschäftigt ist, die anderen lachen über irgendeinen kleinen Gag – na und?
Erst wenn man so was mal eine Zeitlang nicht mehr hatte, wird einem klar, dass es eben nicht selbstverständlich ist. Ich hab zum Glück nicht allzu lange gebraucht, um neue Freunde zu finden, und ich glaube, demnächst werde ich ihnen sogar alles erzählen: was in Viersen passiert ist, warum ich nach Berlin gezogen bin und so weiter. Weil ich ihnen vertraue und weil ich finde, sie haben ein Recht darauf, das zu wissen.
Aber nicht jeder kriegt so schnell die Kurve. Ebenso gut könnte ich auch jetzt allein an meinem Tisch sitzen wie Elwira, die praktisch keine Freunde zu haben scheint, und irgendwas kritzeln, damit es wenigstens so aussieht , als wäre ich beschäftigt. Oder ich könnte so wie Maxi die Mittagspause in der Mensa verbringen und hoffen, dass sich jemand zu mir an den Tisch setzt, weil sonst kein Platz mehr frei ist.
Ich könnte nach der Schule immer noch lustlos in meinem Zimmer rumhängen, im Internet surfen, Musik hören, mit meiner Mutter telefonieren und warten, bis es endlich Abendessen gibt. So war es schließlich noch vor ein paar Tagen, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder irgendwas Sinnvolles mit meiner Freizeit anfangen würde.
Tja, vielleicht ist meine ganze Begeisterung auch voreilig. Wer weiß, vielleicht entpuppt Becky sich als irre Serienkillerin, Luna erweist sich als intrigante Ziege, die all meine Geheimnisse austratscht, und Kenji teilt mir demnächst mit, dass ich nicht annähernd genügend Talent habe, um bei den Cosmic Shocks mitzumachen. Kann alles sein. Ich muss eine Menge Vertrauen investieren und das Risiko eingehen, mächtig auf die Schnauze zu fliegen.
Aber ich finde, das ist die Sache wert.
I ch weiß gar nicht, wieso ich keinem von meinen Übelkeitsanfällen erzählt habe. Mir war es wohl irgendwie peinlich. Wahrscheinlich hätten alle gedacht, dass ich mir das bloß ausdenke, so als Druckmittel, damit ich mehr Aufmerksamkeit kriege und die anderen endlich kapieren, wie mies sie mich behandeln, und damit Uwe und meine Mutter dann doch nicht nach Stuttgart ziehen, weil sie einsehen, dass ich das nicht ertragen würde.
Na ja, wäre natürlich toll gewesen, aber mir war schon klar, dass ich eher das Gegenteil erreichen würde, nämlich Sprüche wie «Jetzt stell dich nicht so an» oder «Benimm dich nicht wie ein Kleinkind». Ich war ja nun mal keine sieben mehr, und einem anderen die Schuld geben an meinem Zustand konnte ich auch
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