Klausen
winkte wie ein Irrer oder so, wie Kinder von der Autobahnbrücke den vorbeifahrenden Autos zuwinken. Dann sah man dort oben plötzlich andere Menschen, sie kamen herbeigelaufen und zogen die winkende Figur beiseite, es sah aus, als entstehe ein Handgemenge. Alles geschah jetzt gleichzeitig. Der Vorgang schien geordnet wie bei einem absurden Ballett, überdies vollkommen stumm infolge der großen Entfernung. Die Person am Pfeiler hatte sich jetzt abgeseilt, wand sich aus den Gurten und lief mit den beiden anderen nach links davon. Sie rannten die Böschung hinauf und verschwanden im Dickicht. Da es stark zu dämmern begann, konnte man nichts sonderlich deutlich erkennen, aber die Unschärfe und die feuchte Atmosphäre gaben dem Vorgang etwas geradezu Theatralisches. Alle auf der einen Seite des Eisacks waren still, viele hielten den Atem an und schauten vollkommen gebannt auf das Geschehen am anderen Ufer. Dort, wo eben noch die Menschen in den Overalls oder der Sportkleidung gewesen waren (die Globalisierungsgegner, wie man sie später nannte, die Terroristen beziehungsweise dieUmweltschützer, man verwendete die Worte je nach Bedarf), erschienen nach wenigen Minuten Carabinieri und suchten das gesamte Gelände ab. Nach einer Weile, während alle damit fortfuhren, die Szene auf der gegenüberliegenden Talseite zu verfolgen, hörte man plötzlich eine Detonation. Sie war nicht laut, ganz im Gegenteil, sie klang eher leise, aber seltsam dumpf. Alle auf der anderen Uferseite schauten sich an. Was war das, fragte man. Da ist was explodiert, rief wer. Eine Explosion, eine Explosion, schrie nun jemand ganz laut. Ein Tumult entstand, jeder begann zu rennen, alle stoben in Panik auseinander. Damit war es geschehen. Klausen war nun ein Tatort.
Noch in der Nacht kamen die ersten Fernsehteams. Man sah irgendwelche Kommentatoren am Eisackufer oder in der Oberstadt stehen und dort Berichte in die laufende Kamera sprechen. In den nächsten Tagen füllte sich die Stadt immer mehr, kaum war das eine Fernsehteam abgereist, erschien schon das nächste. So gut wie jeder Klausner, der den Journalisten entgegenkam, wurde vor die Kamera gezogen, um dort irgendwelche Dinge zu sagen oder, im Falle daß er gar nichts zu sagen hatte, zumindest seine Betroffenheit kundzutun. Gasser wurde am Morgen nach den Ereignissen gleich zweimal interviewt, er gab diese Interviews sogar mit großer Begeisterung, sagte allerdings bloß sehr verworrene Dinge, mit denen niemand etwas anfangen konnte. Am frühen Nachmittag wurden Gasser, Maretsch und Gruber fast zeitgleich verhaftet, in einer sehr hektischen Aktion. EinigeStunden später griff man Auer auf, der seit dem Handgemenge auf der Brücke entflohen war, das heißt, er war gar nicht vorsätzlich entflohen, er war lediglich völlig betrunken gewesen und nach dem Vorfall über zwanzig Stunden in den Wäldern der östlichen Talseite umhergeirrt. Gegen Abend wurde Paolucci festgenommen, und in der Nacht Zanetti. Badowsky war nicht mehr aufzufinden, wahrscheinlich hatte er sich schon über die Grenze nach Österreich abgesetzt. Alle diese Bilder, also insgesamt sechs Festnahmen, waren noch in derselben Nacht und an den folgenden Tagen im Fernsehen zu sehen, überall in Europa und sogar bis in die Vereinigten Staaten, es wirkte ganz so, als habe man eine große, straff organisierte terroristische Vereinigung auf einen Schlag dingfest gemacht. Freilich waren schon in der ersten Nacht Gruber und Maretsch wieder freigelassen worden, es konnte kein Klausner recht verstehen, wieso die Carabinieri die beiden überhaupt aufgegriffen hatten, denn niemand hatte gegen sie irgendeinen Verdacht gehegt. Auch Paolucci kam am nächsten Tag frei (er brüstete sich noch Monate mit dieser einen Nacht im Gefängnis wie mit einer Siegestrophäe). Mit Zanetti beschäftigte man sich länger. Man hatte bei einer Hausdurchsuchung gewisse Schriften und zudem verbotenes pornographisches Material gefunden, wegen letzterem wurde ihm dann der Prozeß gemacht. In Klausen ließ er sich nie mehr sehen. So blieben von der Terrorbande nur noch zwei übrig, Auer und Gasser. Es ist schon bemerkenswert, daß die gesamtewestliche Welt dem, was in Klausen geschehen war, eine solche Aufmerksamkeit schenkte. Terroristen (Umweltschützer) sprengen eine Autobahnbrücke, das hatte die Welt noch nicht gesehen, das war neu. Allerdings war die Aktion, wie schnell herauskam, mehr als dilettantisch durchgeführt und die Talbrücke nicht einmal ernsthaft
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