Kleider machen Bräute
Der Raum entpuppte sich als eine schmucklose, mittelalterliche Halle mit hohen Steinwänden, in die weit oben, direkt unterhalb der hölzernen Decke, winzige Fenster eingelassen waren. An den Wänden hingen farbenprächtige Wandteppiche, dazwischen Ölgemälde von längst verstorbenen Adeligen beiderlei Geschlechts. Am hinteren Ende des Raums stand die Bühne des Auktionators, umgeben von einer hölzernen Balustrade, und in den ersten Reihen saßen elegant gekleidete Damen und Herren an Tischen mit Telefonen und Notizblöcken.
Die Reihen dahinter waren vollgepackt mit erwartungsvollen Kaufinteressenten. Molly betrachtete alles staunend. Ihr fiel auf, wie unterschiedlich italienische und französische Eleganz waren. Die Mode hier war irgendwie ausgefallener, und doch nicht aufdringlich. Die Anzüge waren supergerade geschnitten, die Kleider schlicht und schmal. Und die Sonnenbrillen! So viele Sonnenbrillen, in einem Innenraum, noch dazu, wo es draußen schon fast dunkel war!
Italienischer geht’s wohl kaum , dachte Molly.
Hinter der Bühne und auf den freien Flächen auf dem Boden verteilt lag, stand oder hing eine wilde Mischung von Objekten, die offenbar alle versteigert werden sollten. Antike Vogelkäfige, eine elegante Chaiselongue, ein Flügel sowie Vitrinen voller winziger und vermutlich sehr kostbarer Schätze.
Molly sah sich um. »Ich dachte, es würde nur Kleidung versteigert, aber es sind alle möglichen Kostbarkeiten zu haben. Man sollte doch meinen, dass eine Robe von Worth eine eigene Auktion wert ist, oder?«
»Meine ganz persönliche Meinung? Nein«, erwiderte Simon. »Kommen Sie. Lassen Sie uns die Sache hinter uns bringen.«
Molly verdrehte die Augen. Na gut, wenn Simon eingeschnappt sein wollte, einverstanden. Sie würde jeden Moment ein original Charles-Frederick-Worth-Kleid zu sehen bekommen! Und falls Pascal Erfolg hatte, würden sie die restliche Fahrt nach Venedig mit diesem Kleid und gleich zwe i (!) Delametri Chevaliers auf dem Rücksitz des Cinquecento verbringen!
Besser ging es ja wohl gar nicht.
16. Kapitel
Stunden bis zur Hochzeit : 21,5
Kilometer bis zur Hochzeit: 179
D ie Auktion war in vollem Gange. Eine grimmig dreinblickende Frau in einem durchgeknöpften braunen Overall hielt ein hübsches Teeservice aus Porzellan hoch, während der Auktionator Gebote aus dem Saal ent gegennahm. Zweihundert, zweihundertzehn, zweihundertzwanzig … diskret und geübt wurden Hände erho ben und wieder gesenkt. Dem Auktionator entging nichts, und Molly dachte, dass er Adleraugen haben musste. Sie fand alles schrecklich aufregend. Sie war noch nie bei einer Auktion gewesen. Die Flohmärkte, zu denen sie an verregneten Samstagen in Yorkshire mit Reggie gegangen war, gehörten in eine andere Kategorie.
Obwohl der Raum sehr voll war und viele Leute im hinteren Teil sogar standen, entdeckte Molly Pascal und ihre Mutter auf einer Bank an der Saalseite. Ohne weiter darüber nachzudenken, ergriff sie Simons Hand und bahnte sich ihren Weg zu den beiden.
»He!« Eine streng aussehende Dame mit turmhohen Absätzen und der obligatorischen Sonnenbrille zog ein finsteres Gesicht, als sie sich vorbeidrängten.
»Pardon!«, flüsterte Molly und warf der Dame einen entschuldigenden Blick zu. »Oh, Simon, da vorn ist ein kleiner Hund, passen Sie auf, dass Sie nicht drauftreten.«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Simon erschöpft. »Aber ich verspreche nichts, falls er mich in den Knöchel beißt.«
Pascal und Mollys Mutter rutschten enger zusammen, um Platz für sie zu schaffen.
Auf Pascals Gesicht spiegelte sich pure Erwartung.
Molly tätschelte sein Knie. »Alles in Ordnung?«
Als traue er seiner Fähigkeit zu sprechen nicht, nickte Pascal nur energisch.
»Du hast es doch nicht verpasst, oder?«, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Aber es wird nicht mehr lange dauern – sieh nur!«
Aufgeregt zeigte er auf das Programm. Seine Hände zitterten. Tatsächlich, da stand es. Molly übersetzte im Stillen:
»Charles-Frederick-Worth-Ballkleid aus Seide, circa 1885,
ein seltenes Exemplar eines orginalen Worth-Modells aus
dem späten 19. Jahrhundert. Dieses gewagte Ballkleid
aus handgewebter grüner Seide gilt als frühes Beispiel
für Worths Einfluss auf die frühe Jugendstilbewegung.
Geschätzt: 50 000 Euro.«
Molly war nicht überrascht, als sie den Schätzpreis sah, eigentlich fand sie es sogar erstaunlich günstig. Obwohl solche Summen weit über ihren Möglichkeiten lagen, wusste sie, dass
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