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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Stock?«
    »Er macht nur Witze«, beruhigte
Binky sie.
    »Wir bauen die Flerzabteilung
zum Kreißsaal um«, alberte Nat übermütig. »Nehmen eines der Gitterbetten fürs
Kind. Und Windeln haben die da oben, weiß Gott, reichlich. Stimmt’s, Noah?«
    Noah grinste, doch nur in seine
Teetasse. Er war in jenem Alter, in dem jegliche Erwähnung von Körperfunktionen
kolossal peinlich war.
    »Das Beste an der Geschichte
ist«, meinte Nat, »daß keine Seele in Senior City auch nur im Traum an diese
Möglichkeit gedacht hat und in unseren Verträgen nur als Bedingung steht, die
Antragsteller müssen beim Eintritt über fünfundsechzig sein; das Baby ist aber
kein Antragsteller. Allerdings haben wir den Streit um den ersten Stock
verloren. Hast du gehört, daß wir gern in den ersten Stock gezogen wären?
Jetzt, wo Binky mich versorgen kann, aber das hat die Leitung abgelehnt.
Betonen, so ginge das hier nicht. Es geht nur aufwärts; nicht abwärts.«
    »Na ja, vielleicht ist es das
beste so«, beruhigte Binky ihn. »Unsere Nachbarn hier auf Zwei wären
todtraurig, wenn wir gingen, jetzt wo das Baby unterwegs ist.«
    »Allerdings, über
Babysittermangel können wir uns sicher nicht beklagen«, versetzte Nat trocken.
    Er war davon überzeugt, sein
Kind war ein Mädchen, auch wenn sie das Geschlecht nicht im voraus hatten
wissen wollen. Er kannte sich nur mit Mädchen aus, behauptete er. Er versuchte,
Noah davon zu überzeugen, daß alle Babys zuerst Mädchen waren und sich erst,
wenn ihre Augen nachdunkelten, in Jungen verwandelten.
    »Du kannst dir nicht vorstellen,
wie viele alte Damen schon Babyschuhe stricken«, erzählte er Delia.
»Strickpantöffelchen, Söckchen, bestickte Schuhchen... eine Ausstattung: Imelda
Marcos ist ein Waisenkind dagegen.«
    Dennoch, sicher machten sich
Nat und Binky auch Sorgen, dachte Delia. Bestimmt! Manchmal bekam sie eine
Gänsehaut bei soviel zur Schau getragener Zuversicht — Binkys Angewohnheit,
jedem zu sagen: »Wir freuen uns unbändig«, wie, um das rechte Stichwort zu
geben; und Nat, selbst so zerbrechlich und leicht umzupusten wie ein
Spielzeugturm, umgab sie mit seiner Fürsorge.
    »Als meine erste Frau im
Sterben lag«, erzählte er Delia eines Nachmittags, »habe ich an ihrem Bett
gesessen und gedacht, Dies ist ihr wahres Gesicht. Ganz eingefallen,
scharf Umrissen. In ihrer Jugend war sie sehr hübsch, aber jetzt kam mir das
jüngere Gesicht nur wie eine Skizze vor. Dagegen war das Alter die Vollendung,
die endgültige, vollendete Version, die sie immer angestrebt hatte. Das
Eigentliche zum Schluß! dachte ich, und du kannst dir nicht vorstellen, wie
diese Sicht die Sache von da an beeinflußt hat. Attraktive Leute auf der Straße
kamen mir plötzlich so... vergänglich vor. Ich fragte mich, warum sie sich
anstrengten und dermaßen aufdonnerten. Wußten sie nicht, was noch kam? Aber das
will wohl keiner wissen. All die Jahre, als ich noch Kind war und es nicht
erwarten konnte, endlich ›dran‹ zu sein, war mir nie in den Sinn gekommen, daß
dieses ›Dran-Sein‹ nach und nach wieder vorbei wäre. Dann kam Binky. Ist es da
ein Wunder, daß ich mich wie neugeboren fühle?«
    Binky saß dabei, als er das
sagte, sie lehnte sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Ich auch, Liebster«,
sagte sie.
    Plötzlich war sich Delia
bewußt, wie allein sie da saß — wie aufrecht, die Ellenbogen dicht an den
Körper gedrückt, in einem Sessel, ganz für sich.
     
    * * *
     
    Dann war Sommer, warm und grün,
voll Grillenzirpen, nach einem langen, kühlen Frühling. Die Schule ging zu
Ende, und Noah schlief lange, stromerte mit seinen Freunden im Haus herum und
klagte über Langeweile. Joel arbeitete in den Ferien weniger und kam
nachmittags nach Hause. Im Ahornbaum draußen baute ein Spechtpaar sein Haus.
Manchmal hörte Delia sie rufen — ein hohes, aufgeregtes Krähen, das sie an eine
Mädchenschulklasse erinnerte, die zum ersten Mal mit Jungen feierten. Und auf
dem Highway 50 eilten mehr und mehr Wagen zum Strand, Dächer voll kreiselnder
Fahrradräder, Rücksitze voller Kinder, auf der Ablage hinten ein Sammelsurium
aus Sandschaufeln, Schwimmflossen und UTZ-Kartoffelchipspackungen.
    Ob ihre Familie diesmal allein
an die See fuhr? überlegte Delia. Schließlich war Juni. Jetzt war es ein Jahr
her, daß sie gegangen war, auch wenn es ihr viel länger vorkam. Inzwischen
hatte sie alles wenigstens einmal getan — einen Geburtstag allein gefeiert,
    Thanksgiving, Weihnachten und
Neujahr.

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